Fragt man Kai Bienert, ob mit Fotografie Musik festgehalten werden kann, ist er skeptisch: »Ich denke nicht, dass es möglich ist. Es wäre vermessen, das zu behaupten.« Der individuelle Zugang der rezipierenden Person sei entscheidend: »Wenn zum Beispiel Sven-Åke Johansson sich nach vorne beugt und auf einer Pappe herumtrommelt, dann wissen eigentlich alle, die das Bild sehen und seine Musik kennen, wie das klingt.« Bienert, der selbst in einem fotografieaffinen Haushalt groß geworden ist und während seiner Kochausbildung eine Dunkelkammer im fensterlosen Bad der Fachhochschule einrichtete, blickt etwas nüchterner auf die synästhetische Kraft der Fotografie. Kurz nach der Wende kündigte er seinen Job im Interhotel, um in Leipzig Kunst, Fotografie und Medientheorie zu studieren. In seiner ersten Fotoreportage für das Berliner Stadtmagazin Zitty fing er Anfang der 1990er-Jahre die aufgeheizte Stimmung der Hausbesetzer*innenszene in der Mainzer Straße ein. Im Haus der jungen Talente, einem wichtigen kulturellen Treffpunkt für die Ost-Berliner Jugend, kam Bienert dann das erste Mal mit experimenteller Musik in Berührung: »Da liefen teilweise ganz schräge Konzerte, also das, was man heute als Echtzeitmusik bezeichnen würde«, erinnert er sich.
Anfangs dokumentierte er noch mit einer Mittelformatkamera die Freie Jazzszene – unter erschwerten Bedingungen, wie er erzählt: »Schlechte Ausrüstung, die Filme nicht besonders hochempfindlich, miserables Licht, schnelle Bewegungen. Der Ausschuss lag bei 99 Prozent damals.« Immerhin ergaben sich dadurch ungewollte ästhetische Bewegungsunschärfen, die Bienert dankbar annahm. Heute ist der Fotograf bestens auf die widrigen Umstände von immer komplizierter werdenden performativen Aufführungspraktiken vorbereitet – seit Sony die erste lautlose Kamera herausbrachte, sorgt sich Bienert nicht mehr, das »atmosphärische Gleichgewicht zwischen Publikum und Musizierenden« zu stören. Nicht immer schaffe er es, bei einem besonders fesselnden Konzertabend den Auslöser zu drücken: »Ich könnte eine wunderschöne Ausstellung machen mit all den Bildern, die ich nicht gemacht habe«, beschreibt er das Dilemma zwischen professioneller Aufmerksamkeit und völliger Hingabe.
Als Pressefotograf fängt Bienert in erster Linie Momente für ein Publikum ein, das an der Aufführung selbst nicht teilgenommen hat. So wie 2012 bei der MaerzMusik, wo Akio Suzukis selbst entwickeltes Instrument namens Analapos durch die Bildperspektive fast in der Kameralinse verschwindet, als würden die Töne gleich auf der anderen Seite herausfallen.
Das Motiv schon zu sehen, bevor die Kamera hochgenommen wird, ist für Bienert eine Selbstverständlichkeit. Oft versuche er, »aus dem Chaos eine Struktur zu gewinnen«, also Ausschnitte zu finden, in denen eine Dynamik zu spüren ist und dennoch Klarheit herrscht. Wie auf dem Foto des japanischen Free Jazzers Keiji Haino, dessen Haarmähne in alle Richtungen fliegt und dessen Gitarre durch die Bewegungsunschärfe fast zu einer Erweiterung des Körpers wird. »Ich glaube, Leute, die die Musik nicht kennen oder überhaupt keinen Zugang dazu haben, würden tausend verschiedene Klänge hören«, meint Bienert, Leute mit Vorwissen dagegen den ihnen bekannten Sound.
Dass es nicht gehe, die Schönheit eines Klangs tatsächlich zu transportieren im Foto, bedauert Bienert. »Mit einem stummen Medium Klang darstellen zu wollen, ist eigentlich ein Widerspruch in sich«, daher käme auch der Name seiner Firma, mutesouvenir – stummes Andenken. Letztlich bleibt die Frage, ob Fotografie Klänge tatsächlich visualisieren kann, offen. Vielleicht liegt aber genau darin der Reiz der Konzertfotografie – in der Möglichkeit, Musik als Bild zu erfahren und gleichzeitig die Stille zwischen den Tönen festzuhalten. Die Konzertfotografie erzeugt vielleicht keinen hörbaren Klang, aber sie eröffnet einen Raum, in dem all die wahrgenommene Energie und Intensität nachklingen kann.
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Laura Kunkel war Teil unserer Schreibwerkstatt 2022, die field notes jährlich mit Klangzeitort und den positionen ausrichtet. Sie studierte Kunstgeschichte in Berlin und Wien. Ihre zweite Leidenschaft lebt sie als freie Autorin aus und schreibt u.a. für HHV Mag, Tip Berlin und Musikexpress über musikalische Nischen, experimentelle Klänge und popkulturelle Phänomene.
Aktuell ist eine Ausstellung mit Arbeiten von Cristina Marx / Photomusix im exploratorium berlin zu sehen.