Walgesänge und Psychopharmaka

Das Ensemble Gletsjer⁴ beim Klangwerkstatt Festival

1 November, 2025 | Lisa Nolte

Walgesänge und Psychopharmaka Das Ensemble Gletsjer⁴ beim Klangwerkstatt Festival  Hornquartette waren in früheren Epochen eine beliebte Besetzung. In der zeitgenössischen Musik haben sie einen komplizierten Stand: Das Horn gilt als schwieriges Instrument, ausgebildete Hornist*innen ziehen den Platz im Orchester in der Regel dem Leben als freischaffende Musiker*innen vor, und die aktuelle Literatur für das Instrument ist spärlich gesät. Beim Festival Klangwerkstatt Berlin ist nun erstmals das Ensemble Glets
©field notes

Hornquartette waren in früheren Epochen eine beliebte Besetzung. In der zeitgenössischen Musik haben sie einen komplizierten Stand: Das Horn gilt als schwieriges Instrument, ausgebildete Hornist*innen ziehen den Platz im Orchester in der Regel dem Leben als freischaffende Musiker*innen vor, und die aktuelle Literatur für das Instrument ist spärlich gesät. Beim Festival Klangwerkstatt Berlin ist nun erstmals das Ensemble Gletsjer⁴ zu hören: vier Hornist*innen, die alle auf ihre eigene Art zur Weiterentwicklung des Instruments beitragen. field notes Redakteurin Lisa Nolte hat sie bei den Vorbereitungen für das Debüt begleitet.

Es ist einer dieser unerwartet heißen Tage Ende September. Sonnenlicht flutet den Probensaal. Die Mitglieder des Hornquartetts Gletsjer⁴ stellen sich in einem weiten Kreis auf, setzen ihre Instrumente an und beginnen zu spielen: Erst deutet sich ein Kanon an, doch bald schon verschieben sich Stimmen und Zeiten. Mal kommen alle vier Instrumente zu einem dichten warmen Klang zusammen, dann wieder hebt eines von ihnen ab und schickt einen einzelnen strahlenden Ton über das Geschehen hinweg. Man kann sich richtig hineinlegen in dieses kräftige weiche Wogen, das allzu bald wieder vorbei ist.

»Wir haben geklungen wie eine Hornklasse im Studium, die einfach nur möglichst schön spielen will«, kommt es aus der linken Ecke. »Das sind doch nicht wir. Wir können doch noch ganz andere Sachen.« Betroffenes Schweigen. Der erste Impuls ist Protest, schließlich war es ein schöner Moment. Zugleich wissen alle, was gemeint ist, denn im Ensemble Gletsjer⁴ haben sich vier echte Charakterköpfe zusammengefunden.

Die Manöverkritik stammt von Elena Kakaliagou: seit gut zwei Jahrzehnten international aktiv zwischen zeitgenössischer Musik und freier Improvisation, Mitglied von Ensembles wie Zinc & Copper und zeitkratzer – und nun auch von Gletsjer⁴, das bei der diesjährigen Klangwerkstatt Berlin sein Debüt geben wird. Die Idee für ein Hornquartett, das sich ausschließlich aktueller Musik widmet, ist schon vor längerer Zeit entstanden. 2022 fanden sich Elena Kakaliagou, Morris Kliphuis, Abigail Sanders und Samuel Stoll erstmals zu viert zusammen. »In unserer ersten Probe haben wir zunächst die Hörner untereinander getauscht. Das war schon sehr intim«, erinnert sich Abigail Sanders. Eine Intimität, die beim gemeinsamen Arbeiten vielleicht auch eine besondere Offenheit ermöglicht. Als Solistin arbeitet Sanders seit einigen Jahren an Imitationen von Walgesängen. »Ich versuche dabei wortwörtlich, ein anderes Wesen zu werden. Dadurch mache ich sehr ungewöhnliche Sachen auf meinem Instrument. Es ist eine andere Art zu spielen, aber sie passt zu uns. In einer Probe haben wir eines meiner Stücke gespielt: ich die Melodie, Morris das Echo dazu, und Samuel und Elena haben tiefe Meeresgeräusche gemacht. Wir sind alle sehr spezialisiert und können Dinge tun mit dem Horn, die man nicht oft zu hören bekommt.«

»Es war schon immer mein Wunsch, in so einem Hornquartett zu spielen. Ich finde das einfach eine wahnsinnig tolle Besetzung. Aus der Klassik und der Romantik gibt es viel Literatur dazu. In der neuen Musik ist diese Kombination aber noch sehr selten«, erzählt Samuel Stoll. Und Sanders ergänzt: »Wenn man neue Musik spielt auf dem Horn, ist man oft die einzige Person weit und breit, die das macht. Horn ist ein sehr schwieriges Instrument. Ich glaube, viele Komponist*innen haben große Angst, dafür zu schreiben, und wissen gar nicht, was es alles kann.« Dem Mangel an zeitgenössischer Hornliteratur hat Samuel Stoll schon früh Konzepte entgegengesetzt: Als Diplomarbeit verfasste er 2008 eine Horn- schule zu neuen Spieltechniken, für die Kompositionen ent- standen, und 2016 nahm er sich vor, bis zu seiner Pensionierung 2045 jedes Jahr ein neues Stück für Horn in Auftrag zu geben. Der Hornschule entspringt auch »Uniplanar« aus der Feder des tschechischen Komponisten Petr Bakla, ein Stück, das mit dem reinen, fein austarierten Hornklang arbeitet. Beim Konzert in der Klangwerkstatt könnte es damit eine ziemlich einzigartige Stellung einnehmen.

Zurück im Probenraum, auf der Suche nach einem neuen Ansatz. »Vielleicht liegt es am Material«, wirft Morris Kliphuis ein, »wir könnten noch freier damit umgehen. Mehr Pausen, auch mal etwas auslassen.« Das Material, damit sind die »French horn interval studies« von Pauline Oliveros gemeint, eine Sammlung von Etüden für Horn solo aus einer frühen Schaffensphase, lang bevor Oliveros zur Ikone des Deep Listening wurde. Das Ensemble hat sich vorgenommen, eigene Versionen für Hornquartett aus den Etüden zu entwickeln. Seit dem Sommer arbeiten sie gemeinsam daran, probieren verschiedene Dämpfer, Spieltechniken, verschobene Einsätze und individuelle Tempi aus. Auch der Raum spielt schlussendlich eine Rolle. Die kirchenhafte Akustik im Studio 1 des Kunstquartier Bethanien verzeiht viel, kann aber auch weichzeichnen und ist nicht zu vergleichen mit der Direktheit des Klangs im gut isolierten Probenraum. Außerdem fordern die mehrstöckigen Arkadengänge des Konzertsaals geradezu heraus, sich beim Spielen zu bewegen, mit Nähe und Ferne zu spielen. 

Für den zweiten Teil der Probe rücken die vier Musiker*innen aber erstmal dichter zusammen. Die langgezogenen vollen Klänge von Oliveros weichen einer dichten Folge aus kurzen atemlosen Pulsen. Der Zyklus »SILENTLY & VERY FAST« von Jennifer Walshe steht auf dem Plan. Vier grafische Partituren aus schraffierten Formen, die ein Puzzle von chemischen und mathemati- schen Formeln, Noten und Silbenketten wie »do-re-re-mi« umgeben. Dazu auf jedem Blatt eine orakelnde Anweisung: »Pour away the ocean + sweep up the woods« oder »In history lie like bones everyone«. »Elena ist Improvisatorin. Abi kommt aus der Improvisation und Komposition, Morris kommt aus dem Jazz und schreibt auch selbst. Ich fand es sehr beeindruckend, wie schnell in so einer Konstellation zu einer grafischen Partitur Ideen und Konzepte für die Umsetzung da sind. Das ist anders, als wenn man in einem Ensemble spielt, das ausschließlich mit Noten arbeitet und erst einmal nur das spielt, was da steht«, merkt Samuel Stoll an. Ein bisschen Hilfe haben sich die vier beim Enträtseln der Formelsammlung dann aber doch geholt, räumt er ein: »Dahinter steckt eine ganze drogenversumpfte Geschichte. Wenn man die Partitur bei ChatGPT hochlädt, kommt eine ganze Liste von Antidepressiva und Psychopharmaka herausgerattert.« Und so fällt in der Probe hier und da die Forderung, etwas umnebelter und bedröhnter zu spielen.

Das Rätsel um ihren Ensemblenamen lösen die Musiker*innen zum Schluss noch auf: »Für unsere erste Projektidee sollte ich ein Stück erarbeiten, das auf Aufnahmen der Gesänge von Grönlandwalen aus dem arktischen Meer aufbaut. Die hören das Eis knacken und singen diese Geräusche nach«, erzählt Sanders. Für den Antrag zur Finanzierung dieses Projekts brauchte das Ensemble einen Namen. »›Gletsjer‹ ist Holländisch und heißt auf Deutsch übersetzt Gletscher«, ergänzt Stoll, »Morris ist Holländer, und ich bin Schweizer. Das hat die Spannweite unserer Arbeit ganz gut zusammengefasst.«

 

Gletsjer⁴: »Look, Stranger, on this Island« 
@Klangwerkstatt Berlin 2025 
Kunstquartier Bethanien, 
Do., 13.11., 20 Uhr

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