»A Lot of Fun for the Evil One«

Zehn Jahre Sentimental Punk

24 October, 2025 | Franziska Busse

Publikum vor der Fensterfront des Kotti-Shop, auf die ein Film projiziert wird
©Florencia Curci

Mit ihrer 79. Ausgabe hat die Veranstaltungsreihe Sentimental Punk am 11. Oktober Jubiläum gefeiert: Zehn Jahre feministischer Experimentalfilm mit improvisierter Live-Musik in der Hochhausschlucht. Was als Archivprojekt begann, ist mittlerweile zu einem festen Termin im Open-Air-Kalender geworden und verwandelt die graue Gasse zwischen Kottbusser Tor und Zentrum Kreuzberg regelmäßig in einen gemeinschaftlichen Treffpunkt. Franziska Busse berichtet für field notes von einem Abend mit »Art-Core«, Cello und Kabelsalat.

Samstagabend, mitten im Herzen Kreuzbergs. Zwischen Betonspielplatz, Spätkauf und Bar erhebt sich die temporäre Bühne des Kotti-Shops – eines Ortes für experimentelle Kunstformate in Berlin. Das Publikum hat sich versammelt, einige nehmen Platz, andere bleiben in der Nähe der Bar stehen. Trotz – oder gerade wegen – des urbanen Trubels wirkt die Stimmung gesammelt, gespannt, offen. Der Blick richtet sich auf die gläserne Front des Ladens.

Es ist die letzte Vorstellung des dreiteiligen Jubiläumsprogramms von Sentimental Punk, das über den Sommer hinweg im Kotti‑Shop stattfand. In der Konzertreihe wurde seit Juli »A 10‑Year Anniversary in 3 Acts« gefeiert – mit historischem Filmmaterial und zeitgenössischen Live-Soundscapes, die auf das bewegte Bild reagieren. Die Filme stammen aus feministischen Archiven.  Körper in Bewegung, Unschärfen, Super-8-Ästhetik, Wut, Zärtlichkeit und Widerstand durchziehen die Bilder.

Sentimental Punk ist eine nicht-kommerzielle Rechercheplattform mit besonderem Fokus auf feministische Perspektiven, die sich seit 2015 dem filmischen Werk aus queeren und Underground-Kontexten widmet. »Nach einiger Zeit fiel mir auf, dass in den Archiven und Quellen, auf die ich Zugriff hatte, fast ausschließlich männliche Namen auftauchten – keine Überraschung«, erklärt Kuratorin und Gründerin Dafne Narvaez Berlfein. »Daraufhin habe ich ab 2015 meinen Schwerpunkt gezielt auf strukturelle und avantgardistische Filmemacherinnen* gelegt.«

Was einst als informelles Forschungstreffen im Kotti-Shop begann, entwickelte sich während der Pandemie zu einem hybriden Format im öffentlichen Raum: Projektionen auf die Schaufensterfront des Ladens und improvisierte Live-Soundtracks im Innenraum machen das Archiv zugänglich und kollektiv erfahrbar. Kuratiert wird es von Narvaez Berlfein selbst in enger Zusammenarbeit mit einer internationalen Community von Künstler*innen und Kurator*innen, unter ihnen Lisa Simpson, Julia Brunner, Santiago Doljanin, Eugenia Seriakov, Christina Ertl-Shirley, Amirali Ghasemi, Julia Herfurth.

Das filmische Herzstück des Abends bildet eine Collage von Narvaez Berlfein aus frühen Werken der New Yorker Avantgarde-Ikone MM Serra, deren Arbeiten seit den 1980er Jahren radikale Körperlichkeit, feministische Subversion und strukturelles Experiment vereinen. Mary Magdalene aka MM Serra, die über drei Jahrzehnte als Executive Director der legendären Film-Makers' Cooperative tätig war – dem weltweit ältesten und größten Archiv für unabhängigen Film – zählt zu den prägenden Stimmen des experimentellen Underground-Kinos. Die Auswahl der Collage für die Jubiläumsveranstaltung am 11.10.25 entstand unter dem programmatischen Titel »Mary Magdalene, Art-Core« – einem Begriff, den Serra selbst in ihrer »9th Annual Experimental Lecture« definierte als »das Explizite im filmischen Körper […], das den abjektiven Körper in all seiner chaotischen, physischen Pracht erkundet – in seinem Vergnügen und seinem Schmerz« (»Millennium Film Journal No. 51«, 2009). »Art-Core« ist damit nicht nur Titel, sondern auch ästhetisches und politisches Manifest einer filmischen Praxis, die Verletzlichkeit und Lust gleichermaßen sichtbar macht. Die Projektion zeigt Nahaufnahmen weiblicher Körper – roh, intim, politisch – eine Hommage an das Begehren und an die Widerständigkeit weiblicher Perspektiven.

Alina Anufrienko am Cello im Kotti-Shop, auf der Fensterfront dahinter sieht man einen Film laufen.
Alina Anufrienko im Kotti-Shop
© Dafne Narvaez Berlfein

»Sentimental Punk #79 – Mary Magdalene, Art-Core – M.M. Serra early films, a lot of fun for the evil one« präsentiert die Filmcollage in zwei aufeinanderfolgenden Live-Soundtrack-Performances, jeweils als Solokonzert konzipiert und in direkter Interaktion mit dem projizierten Archivmaterial. Den ersten Teil gestaltet Alina Anufrienko mitelektroakustischen Improvisationen auf einem präparierten Cello – einem Instrument, das nicht nur gestrichen, sondern geschlagen, gezupft und mit verschiedenen Objekten manipuliert wird. Mithilfe von Loops, Samples und subtil eingesetzten Effekten entsteht eine vielschichtige Klanglandschaft, die sich weit von konventionellen Streichinstrumentklängen entfernt. Anufrienko entwickelt live eine fragile und zugleich eindringliche Soundkulisse, die die bewegten Körper und atmosphärischen Naturbilder nicht einfach begleitet, sondern sensibel kommentiert und rhythmisch wie emotional spiegelt. Das Spiel zwischen Wiederholung und Variation, Stille und Störung schaffteinen auditiven Raum, der Intimität zulässt und zugleich Distanz herstellt – eine musikalische Auseinandersetzung mit Körperbildern, Fragmentierung und feministischer Repräsentation.

Für den zweiten Teil des Abends hat Kaffe Matthews, eine Pionierin der elektroakustischen Komposition, die seit Jahrzehnten neue Wege des Hörens und Komponierens erschließt, ihr aktuelles modulares Instrument mitgebracht. Das »Ripley« ist ein eigens entwickeltes Klangsystem, das auf den »12 Gates« alchemistischer Erkenntnisse des 15. Jahrhunderts basiert und Backfeeding, Live-Sampling sowie filternde Störungen in ein offenes Improvisationsformat überführt. Parallel zur Filmprojektion zeichnet sich in Matthews’ Silhouette ein komplexes Geflecht aus Kabeln, Geräten und Modulen ab – ein visuelles Echo der klanglichen Verschaltungen, das sich wie ein Schatteninstrument neben dem Film behauptet. Matthews’ Zugang ist zugleich körperlich und spekulativ. Sie arbeitet mit Raum, Daten, Publikum und Objekten und entwickelt daraus eine Musik, die sich im Moment selbst erschafft.

Kaffe Matthews im Kotti-Shop
Kaffe Matthews im Kotti-Shop
© Florencia Curci

Der Live-Soundtrack durchdringt das projizierte Bildmaterial auf eine andere Weise als im ersten Teil des Abends: Während Alina Anufrienkos Performance fast intim, atmosphärisch wirkte, spannt Matthews ein vielschichtiges, eruptives Klangfeld auf, das den Raum mal füllt, dann bricht, zirkuliert und sich selbst zurückwirft. Die Kombination aus synthetischen Störungen, sirrenden Texturen und Rückkopplungsgeräuschen eröffnet ein fast rituelles Hörerlebnis. Die Musik wird zur Transformation, zur alchemistischen Operation. Matthews’ Performance fungierte nicht nur als Soundtrack, sondern auch als klangliches Gegengewicht zum Film. Sie ist ein performativer Dialog zwischen Bild und Frequenz, Sinn und Störung, Körper und Maschine.

Gegen 22 Uhr endet die Vorstellung. Nachtruhe im Innenhof des Neuen Kreuzberger Zentrums. Die Stühle werden langsam abgebaut, aber das Publikum bleibt. Es entsteht ein ungeplantes Nachgespräch, Künstler*innen und Zuschauer*innen kommen ins Gespräch. Der Kotti-Shop, sonst Durchgangsraum, wird zum Ort der Begegnung.

Über Franziska Busse

Franziska Busse hat 2024 an der Schreibwerkstatt von field notes, KlangZeitOrt und Positionen teilgenommen und ist in diesem Jahr Mitglied der Nachwuchsredaktion des Monats der zeitgenössischen Musik. Busse, geboren in Berlin, studiert im Master Musik, Sound, Performance an der Freien Universität Berlin. Als Mitglied des Jugendchors der Staatsoper Unter den Linden nahm die Mezzosopranistin studienbegleitend an szenischen Projekten teil und legte während ihres Bachelors in Musikwissenschaft und Kunstgeschichte (HU Berlin) ihren Schwerpunkt auf Neues Musiktheater und Dramaturgie.

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