Aesthetics of Access

Zeit für eine vielsinnliche Kulturpraxis der Musik

28. Februar 2025 | Gunda Schröder

Athena Lange als Zauberin Alcina am Theremin
©Robin Hinsch

»Aesthetics of Access« beschreibt einen Ansatz, bei dem Barrierefreiheit integraler Bestandteil des künstlerischen Prozesses ist. Er setzt voraus, dass Künstler*innen mit Behinderung mit ihrer Expertise von Anfang an beteiligt sind. Gunda Schröder beschreibt in ihrem Beitrag für field notes, was dieser Ansatz für das Entwickeln von Musikproduktionen bedeutet und wie das Musikmachen und -erleben auf verschiedenen Sinnesebenen funktionieren kann.

Wenn Sie aus dem Haus gehen, um eine musikalische Veranstaltung zu besuchen, ziehen Sie sich bewusst in einem bestimmten Kleidungsstil an? Und mit welchem Wahrnehmungsstil gehen Sie in eine Veranstaltung? Kann man sich Wahrnehmungsweisen anlegen, wie Kleidungsstücke über den Körper ziehen, um einem Wahrnehmungsstil als einer künstlerischen Identität zu folgen? Je mehr Körperwahrnehmungen sinn- und stilvoll aufeinander bezogen werden, umso aufmerksamkeitserregender? Womöglich der letzte Schrei: von innen heraus, aus dem eigenen Körper, die Grenzen des eigenen Musikhorizonts erweitern!

Immer mehr Musikveranstaltungen beziehen performative Elemente ein, verschiedene künstlerische Ausdrucksweisen entgrenzen die Genres und verschieben Veranstaltungsformate. Immer weniger selbstverständlich wird davon ausgegangen, dass man Musik akustisch hören können muss. Unerhört! Es gibt taube bzw. gehörlose und schwerhörige Musiker*innen, Tänzer*innen, Performer*innen. So wie es auch z.B. blinde oder sehbehinderte Tänzer*innen, Fotograf*innen etc. gibt. Immer mehr wird bewusst, dass akustische, visuelle oder andere Ereignisse im Raum oft viele unterschiedliche Wahrnehmungsanteile haben. Eine Bewegung im Raum ist zu hören. Jeder Schall im Raum ist auch eine Luftzitterung, die haptisch und visuell ihren Niederschlag in einer körperlichen Empfindung finden kann. Je nach situativer Gegebenheit weht ein Luftzug durch den Raum, der wie Wind in einer Landschaft sogar auch zu riechen ist. Bei all diesen Phänomen geht es nicht darum, Musik einzufangen oder zu dokumentieren oder gar zu übersetzen, sondern mit ihr zu interagieren, an ihr teilzuhaben und in ihr zu sein.

Ein Beispiel für diese Entwicklung ist das Ensemble [in]- operabilities, das mit gehörlosen und auch sehbehinderten Darsteller*innen und Künstler*innen unterschiedliche Formate für Musiktheater erforscht und erprobt, wie zum Beispiel im Arienabend »A Singthing« (2021) oder den Musiktheatern »Die Insel« (2024) und »Die Wellen« (2024). Vor einigen Jahren hat sich der kulturwissenschaftliche Begriff »Aesthetics of Access« herausgebildet. Er bezeichnet nicht alleine barrierearme Zugänge »behinderter« Zuschauer*innen oder Künstler*innen – sondern vor allem das kreative und künstlerische Potenzial der besonderen Fähigkeiten, Zugänge und Wahrnehmungsweisen. Sie sind im besten Sinne Avantgarde.

Die bewusste Erforschung spezieller Wahrnehmungsformen im Schaffensprozess erweitert das kreative Potenzial ungemein. Und ermöglicht entschiedene Wahrnehmungsstile. So erschaffen auch immer mehr gehörlose und schwerhörige Künstler*innen Kulturveranstaltungen mit einem neuen Musikverständnis. Und tasten sich im wahrsten Sinne des Wortes an eine neue Musik heran. Nicht-Hören und Musik, das schließt sich nicht mehr aus.

Bei üblichen, hörzentrierten musikalischen Konventionen ist durch vorherrschende Hörtraditionen und Hörgewohnheiten nur hörbar, dass ein gehörloser Mensch ohne akustische Kontrolle oder ohne musikalische Konvention singt – jedoch fallen die gleichzeitig spür- und sichtbaren Nuancen und musikalischen Impulse ins Leere. Werden nicht gehört. Noch nicht.

In der zeitgenössischen Musik gab es schon einige entsprechende Ansätze, zum Beispiel bei bei Komponist*innen wie Pauline Oliveros, Helmut Oehring oder Mauricio Kagel. Gebärdensprache kann musikalisch verwendet werden. Wenn Sie keine Gebärdensprache beherrschen, ahnen Sie wahrscheinlich nicht, wie präzise Gebärdenbewegungen ausgeführt werden können. Aber eine Gebärde genau ausführen, das müssen Sie, wenn Sie für ein entsprechend geübtes Auge die Tonalität einer Gebärdenbewegung treffen wollen, die u.a. aus dem Tonus, d.h. der muskulären Haltung, einer Gebärdenhandbewegung entspringt. Zur Veranschaulichung: Dirigent*innengebärden haben einige dieser Bewegungsqualitäten – aber eben nur einige.

In vielerlei Hinsicht ist bei der Verwendung von Gebärdensprache Vorsicht geboten, z.B. vor einer kulturellen Aneignung. Respektlos nur einzelne Gebärden herausgreifen und sinnlos in einer wiederum nur akustisch orientierten Musik- oder Kommunikationssituation zu verwenden, ist natürlich nicht angesagt. Das kann schnell so empfunden werden, als wenn jemand aus einem kolonialistischen Denken heraus bedenkenlos Objekte aus anderen Kulturen in Museen ausstellt. Der Kontext zählt – und erzählt.

Besondere Empfindsamkeiten bringen auch besondere Empfindlichkeiten mit sich. Was für einige nicht spürbar oder überhaupt nicht existent ist, ist für andere womöglich, schmerzhaft: Wenn jemand ungenau oder ungelenk gebärdet, ohne Gebärdensprache zu können, dann ist es im Auge von Gebärdensprachkundigen oft unstimmig und disharmonisch. Es sei denn, eine »Dissonanz« ist beabsichtigt, ist musikalisch eingebettet. Oder es gibt sensible Berührungsmomente der Gebärde mit anderen Sinnebenen, die als gebärdensprachlicher Ausdruck zwar ungenau sein mögen, dafür aber als Körperausdruck subtile Beziehungsmuster anklingen lassen. Und wenn eine solche Performance wirklich gelingt, dann ist sie auch für gebärdenunkundige oder für blinde Menschen als Zuhörer*innen bzw. Zuschauer*innen bzw. »Hinfühler*innen« vielsinnlich spürbar.

Manche Wahrnehmungsstile ergänzen sich, viele widersprechen sich aber auch! Da ergeben sich durchaus gewagte Kombinationen, die je nach Perspektive, d.h. Wahrnehmungsstil, unterschiedlich bewertet werden. Entscheidend ist die Öffnung ins Improvisatorische, der Mut zur Lücke und das zwischen- menschliche Vertrauen zueinander, um in der musikalischen Interaktion den jeweiligen Wahrnehmungsstil auszuloten, der für den vielsinnlichen Kontakt mit den Musikpartner*innen nötig und sinnvoll ist – bei gleichzeitiger Rückkopplung für die jeweilige Situation, Stimmungslage und Atmosphäre. Das findet ganz besonders in der performativen Interaktionsform zwischen gehörlosen und sehbehinderten Darsteller*innen der Gruppe [in]- operabilities statt. Bei einer Forschungsarbeit im Rahmen eines [in]operabilities-Labors wurde mit verschiedenen »Vertonungen« von Gebärden experimentiert, so z.B. mit spontanen Beschreibungen einer Gebärdensprachpoesie. Die Gebärden wurden von einigen Gebärdensprachunkundigen nur visuell beschrieben oder von anderen nur haptisch ertastet. Die spontanen lautsprachlichen Beschreibungen bedienten sich subtiler körperlicher und prosodischer Mittel, die zutiefst poetisch und musikalisch orientiert waren. Solche Experimente zeigen, wie vielfältig vielsinnliche Ausdrucksformen sind, wie sich vielsinnlich orientierte Musik- stücke noch entwickeln können und was noch alles an neuer Musik weiter möglich ist.

Vielsinnliches Musizieren ist ein Zugang zur Musik, in dem verschiedene Sinne gleichzeitig miteinander agieren. Und je nach Vorlieben, individuellen und sozialen Geschichten ist der eine Sinn ausgeprägter als der andere. Wer damit bewusst umgeht, sich seiner eigenen Vorlieben bewusst ist und andere Wahrnehmungsweisen deshalb umso besser einbeziehen kann, hat Wahrnehmungsstil! Es ist Zeit für eine vielsinnliche Kulturpraxis der Musik.

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Gunda Schröder (Hamburg) ist schwerhörig und beschäftigt sich mit Stimme, Klang, Ton in Verbindung mit freier Bewegung, Gebärdensprache, Tanz. Sie ist Fühlosofin von Räumen, Körpern und Sphären. So experimentiert sie als Performerin, Kunst- und Literaturvermittlerin, forscht mit [in]operabilities – u.a. im Berührbarkeiten-Labor – und schreibt darüber.

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