Der Klang der Bilder

Ein Portrait der Konzertfotograf*innen Cristina Marx und Kai Bienert

28. Februar 2025 | Laura Kunkel

Julie Sassoon bei einem Konzert
©Cristina Marx/Photomusix

Wie lässt sich eine flüchtige akustische Erfahrung visuell dokumentieren? Diese Frage stellt sich besonders in der Konzertfotografie und dem Versuch, das Wesen von Live-Musik in Bildern einzufangen. Vielleicht entscheidet am Ende der Blick der Betrachtenden darüber, wie unsere Autorin Laura Kunkel von zwei Chronist*innen der Berliner Musikszene, Cristina Marx und Kai Bienert, erfahren hat.

Eine, die ihre Arbeit ausdrücklich als ein Dokumentieren versteht, ist Cristina Marx, auch bekannt als Photomusix. Mit der Konzertfotografie kann die Autodidaktin ihre Liebe zur Musik und Fotografie zusammenbringen. Ihre Begeisterung für die Dokumentation von Live-Auftritten entdeckte sie, als eine befreundete Trompeterin sie vor Jahren bat, einen Auftritt fotografisch festzuhalten: »Ich wollte einfach intuitiv sein und einfangen, was ich beobachte. Dass ich schon immer sehr viel mit Film, also mit dem Hinsehen, zu tun hatte und immer noch habe, hat mich vermutlich beeinflusst«, erzählt sie über ihren ersten Auftrag, den sie selbst nicht als solchen bezeichnet.

Einfangen, was man sieht – spätestens seit Walter Benjamins Überlegungen zur technischen Reproduzierbarkeit von Kunst wissen wir, dass das Abbilden der Realität durch Fotografie und Film die Flüchtigkeit und die Einzigartigkeit eines Moments nicht konservieren kann. Doch ein Foto kann weit mehr: Es kann synästhetische Verknüpfungen wecken, Emotionen und Energien festhalten und letztlich Musik im Kopf sichtbar machen. »Wenn mir die Leute sagen: ›Ich habe die Fotos angeguckt und hatte das Gefühl, ich habe die Musik gehört und war selbst dabei‹ – das ist für mich das Schönste«, so die Fotografin.

Seit fast zehn Jahren sucht sie in der Berliner sowie der internationalen Improvisations- und Jazzszene nach besonderen Momenten. Nicht zufällig trug ihre erste Einzelausstellung im Rahmen des Festivals unlimited Wels 2018 den Titel »chasing that moment«. Wie es der französische Fotograf und Regisseur Henri Cartier-Bresson 1952 in seinem Aufsatz »Der entscheidende Augenblick« formulierte, braucht es den »entscheidenden Augenblick«, um mit einer einzigen Szene eine ganze Geschichte zu erzählen. In der Konzertfotografie kann das eine Geste, ein Ausdruck oder eine Bewegung sein, die den Klang im Bild erlebbar macht.

Es ist das Zusammenspiel aus Energie und Bewegung, das besonders in der freien Jazz- und Improvisationsszene hör- und sichtbar werden kann und Marx so fasziniert. Gleichzeitig erschwert es eben jene Interaktion zwischen den Musiker*innen, das ideale Motiv zu erwischen. Prägend für Marx’ Interesse an dieser Musik waren zum Beispiel Konzerte des Schlippenbach Trios ab den frühen 90ern oder der Lounge Lizards im Jahr 1989. Letzteres war für sie »ein Aha-Erlebnis, weil das so eine Wucht hatte auf der Bühne«, erzählt sie. Mit einer Kompaktkamera fotografierte sie zunächst Konzerte ausschließlich für sich selbst. Inzwischen zieren ihre Bilder Alben von Künstler*innen wie Angel Bat Dawid, Christian Lillinger oder Julie Sassoon, wurden in Zeitungen und Magazinen abgedruckt und im Buch »FMP: The Living Music« veröffentlicht.

Dass sie sich als Frau mit Kamera teilweise immer noch stärker beweisen muss, kommentiert Marx mit einer gewissen Lässigkeit: »Ich weiß inzwischen, was ich kann.« Noch vor den technischen Qualitäten des Bildes konzentriert sie sich auf Emotionen, die in und mit der Musik stattfinden. Da gibt es zum Beispiel das Bild der britischen Improvisationsmusikerin und Pianistin Julie Sassoon, die sich, vollkommen vertieft in ihr Spiel, über die Klaviatur beugt, als würde das Instrument ihr zuflüstern. In Bildern wie diesem zeigt sich auch der Einfluss von Dagmar Gebers, die Marx neben Anno Wilms, Val Vilmer und Petra Cvelbar zu ihren Vorbildern und Heroinen zählt. Der weibliche Blick auf die Musik und deren Protagonist*innen fasziniert sie immer wieder neu.

Fragt man Kai Bienert, ob mit Fotografie Musik festgehalten werden kann, ist er skeptisch: »Ich denke nicht, dass es möglich ist. Es wäre vermessen, das zu behaupten.« Der individuelle Zugang der rezipierenden Person sei entscheidend: »Wenn zum Beispiel Sven-Åke Johansson sich nach vorne beugt und auf einer Pappe herumtrommelt, dann wissen eigentlich alle, die das Bild sehen und seine Musik kennen, wie das klingt.« Bienert, der selbst in einem fotografieaffinen Haushalt groß geworden ist und während seiner Kochausbildung eine Dunkelkammer im fensterlosen Bad der Fachhochschule einrichtete, blickt etwas nüchterner auf die synästhetische Kraft der Fotografie. Kurz nach der Wende kündigte er seinen Job im Interhotel, um in Leipzig Kunst, Fotografie und Medientheorie zu studieren. In seiner ersten Fotoreportage für das Berliner Stadtmagazin Zitty fing er Anfang der 1990er-Jahre die aufgeheizte Stimmung der Hausbesetzer*innenszene in der Mainzer Straße ein. Im Haus der jungen Talente, einem wichtigen kulturellen Treffpunkt für die Ost-Berliner Jugend, kam Bienert dann das erste Mal mit experimenteller Musik in Berührung: »Da liefen teilweise ganz schräge Konzerte, also das, was man heute als Echtzeitmusik bezeichnen würde«, erinnert er sich.

Anfangs dokumentierte er noch mit einer Mittelformatkamera die Freie Jazzszene – unter erschwerten Bedingungen, wie er erzählt: »Schlechte Ausrüstung, die Filme nicht besonders hochempfindlich, miserables Licht, schnelle Bewegungen. Der Ausschuss lag bei 99 Prozent damals.« Immerhin ergaben sich dadurch ungewollte ästhetische Bewegungsunschärfen, die Bienert dankbar annahm. Heute ist der Fotograf bestens auf die widrigen Umstände von immer komplizierter werdenden performativen Aufführungspraktiken vorbereitet – seit Sony die erste lautlose Kamera herausbrachte, sorgt sich Bienert nicht mehr, das »atmosphärische Gleichgewicht zwischen Publikum und Musizierenden« zu stören. Nicht immer schaffe er es, bei einem besonders fesselnden Konzertabend den Auslöser zu drücken: »Ich könnte eine wunderschöne Ausstellung machen mit all den Bildern, die ich nicht gemacht habe«, beschreibt er das Dilemma zwischen professioneller Aufmerksamkeit und völliger Hingabe.

Als Pressefotograf fängt Bienert in erster Linie Momente für ein Publikum ein, das an der Aufführung selbst nicht teilgenommen hat. So wie 2012 bei der MaerzMusik, wo Akio Suzukis selbst entwickeltes Instrument namens Analapos durch die Bildperspektive fast in der Kameralinse verschwindet, als würden die Töne gleich auf der anderen Seite herausfallen.

Das Motiv schon zu sehen, bevor die Kamera hochgenommen wird, ist für Bienert eine Selbstverständlichkeit. Oft versuche er, »aus dem Chaos eine Struktur zu gewinnen«, also Ausschnitte zu finden, in denen eine Dynamik zu spüren ist und dennoch Klarheit herrscht. Wie auf dem Foto des japanischen Free Jazzers Keiji Haino, dessen Haarmähne in alle Richtungen fliegt und dessen Gitarre durch die Bewegungsunschärfe fast zu einer Erweiterung des Körpers wird. »Ich glaube, Leute, die die Musik nicht kennen oder überhaupt keinen Zugang dazu haben, würden tausend verschiedene Klänge hören«, meint Bienert, Leute mit Vorwissen dagegen den ihnen bekannten Sound.

Dass es nicht gehe, die Schönheit eines Klangs tatsächlich zu transportieren im Foto, bedauert Bienert. »Mit einem stummen Medium Klang darstellen zu wollen, ist eigentlich ein Widerspruch in sich«, daher käme auch der Name seiner Firma, mutesouvenir – stummes Andenken. Letztlich bleibt die Frage, ob Fotografie Klänge tatsächlich visualisieren kann, offen. Vielleicht liegt aber genau darin der Reiz der Konzertfotografie – in der Möglichkeit, Musik als Bild zu erfahren und gleichzeitig die Stille zwischen den Tönen festzuhalten. Die Konzertfotografie erzeugt vielleicht keinen hörbaren Klang, aber sie eröffnet einen Raum, in dem all die wahrgenommene Energie und Intensität nachklingen kann.

___

Laura Kunkel war Teil unserer Schreibwerkstatt 2022, die field notes jährlich mit Klangzeitort und den positionen ausrichtet. Sie studierte Kunstgeschichte in Berlin und Wien. Ihre zweite Leidenschaft lebt sie als freie Autorin aus und schreibt u.a. für HHV Mag, Tip Berlin und Musikexpress über musikalische Nischen, experimentelle Klänge und popkulturelle Phänomene.

Aktuell ist eine Ausstellung mit Arbeiten von Cristina Marx / Photomusix im exploratorium berlin zu sehen.

 

  • Feature
  • field notes 41

Zum Weiterlesen

Eine Zeichnung von Supermolly

Feature | »Andere tanzen, ich zeichne«

Wer oft in der Berliner Echtzeitsmusikszene unterwegs ist, trifft früher oder später auf Rolf Schröter. Mit seinen Tuschezeichnungen fängt er ihre Figuren und Momente ein.

Athena Lange als Zauberin Alcina am Theremin

Feature | Aesthetics of Access

»Aesthetics of Access« beschreibt einen Ansatz, bei dem Barrierefreiheit integraler Bestandteil des künstlerischen Prozesses ist. Gunda Schröder stellt ihn vor.

YarnWire at Roulette

Feature | Zu Gast in Berlin: Yarn/Wire

Bei der diesjährigen Ausgabe der MaerzMusik präsentiert das New Yorker Ensemble Yarn/Wire ein Programm, das einen Einblick in die Bandbreite seiner musikalischen Experimentierfreude gibt.

Moritz Lobeck und Brigitta Muntendorf

Opposite Editorial | Moritz Lobeck und Brigitta Muntendorf #41

In einer Welt voller Widersprüche lädt dieses Opposite Editorial dazu ein, Gefühlen wie Trauer und Angst durch radikales Zuhören zu begegnen.

Cover der Ausgabe #41

field notes Magazin #41: März/April 2025

Diese Ausgabe beleuchtet, wie Musik auch über das Hören hinaus erfahrbar wird – von Konzertfotografie über Zeichnungen bis hin zu innovativen Ansätzen für Barrierefreiheit.