An einem heißen Abend Anfang August sinnierte Miasmah-Betreiber Erik Skodvin in einer Neuköllner Bar darüber, wie sinnvoll es war, dass er zwei Wochen zuvor Promo-Exemplare der neuesten Veröffentlichung seines Labels verschickt hatte. »Wer würde sich das denn im Sommer anhören?«, seufzte er. »Na, ich«, erwiderte ich mit einem Lacher. Mir war allerdings schon klar, warum Skodvin dachte, dass die posthume Veröffentlichung von Marcus Fjellströms »The Last Sunset of the Year«, einer Sammlung von ursprünglich für eine Fernsehsendung über die Franklin-Expedition von 1845 durch die kanadische Arktis geschriebenen Stücke, bei 33°C Außentemperatur etwas aus dem Kontext gerissen wirken könnte. Andererseits fragte ich mich, was genau es mit diesen 26 Stücken auf sich hat, das sie für den Sommer angeblich so ungeeignet macht.
Ich schreibe diesen Text am 6. November, während die Stadtlandschaft vor meiner Wohnung im 14. Stock im Nebel versinkt und das Album erneut im Hintergrund läuft. Alles daran scheint zugegebenermaßen zu passen. Wie für ihn üblich, hat Fjellström mit einer Mischung verschiedener Klangquellen gearbeitet, wobei er sich vor allem auf Kerninstrumentarium der westlichen klassischen Musik – Streicher und Klavier – gestützt und dessen Klänge elektronisch manipuliert hat. »The Last Sunset of the Year« abstrahiert so immer wieder das Konkrete, um bestimmte Atmosphären zu evozieren. Langgezogene Drones und verworrene Klänge ohne klaren Ursprung werden verwendet, um das Gefühl der Klaustrophobie und des Fatalismus auszudrücken, das die Expeditionsmitglieder empfunden haben müssen, als sie auf der Suche nach der Nordwestpassage nur einen langsamen und grausamen Tod fanden.
Fjellström hat zweifelsfrei erreicht, was er sich vorgenommen hatte: einen Soundtrack zu schreiben, der das Geschehen auf dem Bildschirm komplementiert und die bloßen Bilder und Handlungsabläufe mit zusätzlichen emotionalen Qualitäten anreichert, um den Ernst der Lage noch eindrücklicher zu vermitteln. In Anbetracht des Schauplatzes und des Plots der Fernsehserie scheint es da nur logisch, dass diese Musik sich für die dunklen und kalten Tage am ehesten anbietet. Aber könnte sie nicht auch als buchstäblich erfrischender Kontrapunkt zur brütenden Sommerhitze dienen? Oder anders gefragt: Nach welchen Maßstäben werten wir überhaupt, welche Arten von Musik für welche Art von Jahreszeit angemessen ist?
»The Last Sunset of the Year« mag auf die meisten von uns in den wärmeren und lichteren Teilen des Planeten kalt und düster wirken, weil wir bestimmte kompositorische Entscheidungen und musikalische Elemente kulturell spezifisch interpretieren. Annahmen wie die, dass Dur-Akkorde in der Regel fröhlich und Moll-Akkorde traurig sind, oder aber, dass höhere Tempi energischer sind als niedrigere und so weiter, sind fragwürdige Beispiele dafür. Es handelt sich um willkürliche Zuschreibungen, die von unserer kulturellen Beziehung zu bestimmten Ausdrucksformen geprägt sind. Fjellström appellierte meisterhaft an solcherlei Vorannahmen, indem er bestimmte Stimmungen und Emotionen wirkungsvoll für ein Publikum vermittelte, das deren intendierte Bedeutung unbewusst und mit Leichtigkeit entschlüsselt.
Das bedeutet nur eben nicht zwangsläufig, dass alle Menschen seine Musik auf die gleiche Art und Weise interpretieren würden – vor allem, wenn sie einen anderen kulturellen Hintergrund haben. Der für diese spezifische Musik so wichtige Akt der Kommunikation ist in gewisser Weise immer fehlerhaft, weil sie selbst keinen Anspruch auf Universalität erheben kann.
Musik als »universelle Sprache«
Musik sei eine »universelle Sprache«, wird oft gesagt, doch handelt es sich dabei um eine mehr als gewagte Behauptung. Dass außerirdische Lebensformen auf den Inhalt der Goldenen Schallplatte der Voyager – neben ethnografischen Aufnahmen findet sich darauf auch Musik von Chuck Berry und Igor Strawinsky – genauso reagieren würden wie wir, scheint etwas unwahrscheinlich. Schließlich ist es fast unmöglich, vorherzusehen, was die nächstbeste Person verspürt, wenn sie »Le sacre du printemps« zum ersten Mal hört. Als ich damit zum ersten Mal in Berührung kam, hat das durchaus einen großen Eindruck bei mir hinterlassen – einen Aufruhr ähnlich dem bei der Premiere des Stücks habe ich dennoch nicht gestartet. Wie wir Musik wahrnehmen, ist immer auch von äußeren Faktoren geprägt. Das heißt, dass Musik als vermeintlich universelle Sprache bestimmte Grenzen hat – kulturelle, soziale, ja sogar politische oder, metaphorisch gesprochen, linguistische.
Künstler*innen haben dennoch immer wieder versucht, diese Grenzen zu verschieben oder gar zu überschreiten. Kurt Schwitters war einer von ihnen. Anna Clementi und Thomas Sterns »Doppelmoppel, poems by Kurt Schwitters« für das Berliner Label Corvo setzt einige seiner Gedichte in Musik um, das heißt, in Bewegung. Clementi und Stern zielen auf performative und musikalische Vielseitigkeit ab, verwenden die Texte bisweilen als Cut-up-Material und reichern sie mit den unterschiedlichsten Mitteln an. Donnernde Industrial-Beats, Drones, kreischende Geräuschkaskaden, Field Recordings und eine Art mutierte Zirkusmusik begleiten eine ausdrucksstarke Gesangsdarbietung, die nicht selten ganz für sich allein steht, wenngleich meistens als mehrstimmiger Dialog von Phonemen und Vokalklängen.
Diese (Neu-)Interpretationen (re-)kontextualisieren vorhandenes Material in und für eine andere Zeit, während andere aktuelle Veröffentlichungen ihres im Hier und Jetzt finden. So zum Beispiel Jan Jelinek mit »Social Engineering«, einem Hörspiel in 13 Akten, das auf Phishing-Mails basiert, die der Faitiche-Gründer in seinem Spam-Ordner fand. Indem er ihn in Sound Poetry transformiert, befreit er den Text von seinem Zweck und übersetzt ihn stattdessen in einen Kommentar zu sich selbst. Einen ähnlichen Ansatz verfolgen Andreas Bülhoff und Marc Matter auf ihrem neu gegründeten Label Spoken Matter mit ihrem Album »micro poems«, einer Sammlung von 24 Tracks, die in der digitalen Version jeweils 30 Minuten dauern und auf Vinyl in Form von Locked Grooves daherkommen. Der Sprachkünstler Ian Hatcher liest darauf Homophone in verschiedenen Sprachen vor (»allowed / aloud«, »inside lesson / in Zeit lassen« und so weiter).
Beide Alben beleuchten die Absurditäten und die Fehlbarkeit von Sprache als Kommunikationsmittel sowie unseren Umgang mit ihr. Andere wiederum unterstreichen das künstlerische Potenzial, das in ihr steckt. Als EPRC nutzen Roberto Crippa und Elisabetta Porcinai auf ihrem Album »BODIES« für das Berliner Label Stray Signals Sprache, um ihren synthetischen, basslastigen elektronischen Sound mit einem Gefühl der Instabilität anzureichern: Die Musik fühlt sich hyperdefiniert an, jedes einzelne Element sitzt genau am richtigen Ort, doch die geflüsterten Worte der Porcinai stören jede Art von Gleichgewicht. »Sonic Behaviour«, eine Zusammenarbeit zwischen dem Berliner Modular-Synth-Dub-Duo Driftmachine und dem Schriftsteller Andreas Ammer, fügt Sprache in die Musik ein, um über beides zu reflektieren: Gemeinsam mit Alexander Hacke und Deryn Rees-Jones sowie Ted Milton schaffen sie eine Hommage an die Unmöglichkeit, über das eine ohne das andere nachzudenken.
Diese spannenden Erkundungen der Sprache in Musik, der Sprache als Klang und des Zusammenspiels zwischen Musik und Klang einerseits und der Sprache andererseits setzen sich mit der »Ununiversalität« von beidem auseinander. So stellen sie die Selbstverständlichkeit infrage, mit der wir dem einen oder anderen von beiden einen Sinn verleihen.
Musik ohne Worte
Ira Hadžić geht noch weiter und kehrt mit einem Album zu Cedrik Fermonts Label Syrphe zurück, das die (möglichen) Verbindungen zwischen einem erzählerischen Genre und einem physischen Konzept auslotet: »hard-boiled friction«, auf dem neben Hadžićs Einsatz von Gongs, Schlägeln, Field Recordings und Mikrofonen auch Vocals von Andrew Munn zu hören ist, bringt die Vorgedanken, Konzepte oder Erkenntnisse der Künstlerin zu keinem Zeitpunkt direkt zum Ausdruck. Während das Album qua Titel durch Sprache eindeutig einen Rahmen für sein eigenes Verständnis vorgibt, sind seine wortlosen Inhalte nicht in gleichem Maße leicht zugänglich. Das Faszinierende liegt darin, dass das Album den Anspruch erhebt, zwei verschiedene Dinge nebeneinanderzustellen, und seinem Publikum doch nichts Konkretes zu seiner Entschlüsselung mitteilt – das fördert eine gewisse Demut.
Ähnlich verhält es sich mit dem gewitzt betitelten Album »Gassenhauer« des Trio Catch, das Auftragswerke für Klarinette, Cello und Klavier von Mikel Urquiza, Daniela Terranova, Matthias Kranebitter, Sara Glojnarić und Martin Schütter und auf Sebastian Soltes bastille musique veröffentlicht wurde. Der in diesem Kontext verwendete Titel ist durchaus augenzwinkernd gemeint: Statt auf Schlager bezieht sich das Trio auf Beethovens »Gassenhauer-Trio« für eben jene Besetzung. Der italienische Cellist Michele Marco Rossi spielt mit seiner neusten Veröffentlichung »Canzoniere« in ähnlicher Weise mit den Erwartungen seines Publikums: Er bezieht sich auf eine primär literarische Tradition, doch kommen die Stücke von unter anderem Enno Poppe und Noriko Baba ohne Text aus und lassen sich eher als Lieder verstehen, die den Fokus auf die klanglichen Ähnlichkeiten zwischen Cello und menschlicher Stimme legen.
Obwohl beide Alben sich also auf bestimmte Traditionen beziehen und sich selbst auf gewisse Art darin kontextualisieren, verorten sie sich dennoch nicht in ihnen – was bei Nicht-Eingeweihten womöglich zuerst Verwirrung hervorruft. Auch das könnte als Spiel mit den Schwierigkeiten der Kommunikation über und vor allem durch das Mittel der Musik gedeutet werden, die letztlich wortlos bleibt und ihre eigenen Kontexte zu schaffen versucht.
Trost statt Fatalismus
Fragen der Vermittlung stellen sich auch angesichts Shahab Jafaris »The Blind City«, das kürzlich beim in Teheran gegründeten und seit geraumer Zeit in Berlin ansässigen Label Noise à Noise veröffentlicht wurde. Das Label präsentiert das Album als instrumentale Erzählung über »ein stilles Dorf, das von einer bösartigen Macht gestört wird«. Wer sich dem Werk mit diesem Vorwissen nähert, wird dieses Narrativ wohl recht leicht aus den vier Stücken für Streichquartett und Klavier heraushören. Anders verhält es sich mit der Frage nach der eigentlichen Bedeutung der Geschichte, die in dieser Musik ihren Ausdruck finden soll; nach dem also, wofür sie als Metapher dienen könnte.
In Kombination mit den eindrücklichen Illustrationen Sayeh Parsaeis könnte »The Blind City« leicht als bloße Gruselgeschichte von gehörnten Monstern durchgehen, die ein Dorf erobern. Aber würde sich ein Komponist, der laut Pressetext »dafür bekannt ist, [...] soziale und philosophische Themen« in seiner Musik zu reflektieren, mit ein bisschen Schauergeschichtenstoff begnügen? Gibt es nicht vielmehr eine philosophische, soziale, vielleicht sogar politische Dimension in diesem Werk, die nicht in Worten offenbart, sondern in der Musik verschlüsselt wird? Wenn ja, findet sie sich in der Partitur? Wäre es gar notwendig, dafür ihre Entstehung in einem Land einzubeziehen, in dem sich Künstler*innen mit massiven Einschränkungen konfrontiert sehen? Andererseits: Wer würde einen solchen weitreichenderen Kontext in Betracht ziehen, wenn das Werk woanders entstanden wäre?
»The Blind City« zeigt, dass die Musik sich selbst als vermeintlich universelle Sprache niemals ihrem Kontext entziehen kann – selbst dann nicht, wenn sie versucht, ihren eigenen zu schaffen. Das ist keineswegs etwas Schlechtes, würde ich behaupten – was mich schließlich zu »The Last Sunset of the Year« von Marcus Fjellström zurückbringt, das von Erik Skodvin und Dave Kajganich im Laufe mehrerer Jahre nach dem viel zu frühen Tod des Komponisten im Jahr 2017 akribisch zusammengestellt wurde. Zumindest für mich fühlte sich diese Musik in der brütenden Juli-Hitze nicht aus dem Kontext gerissen an, weil sie so eindeutig das erreichte, was sie erreichen sollte. Obwohl sie sich am heutigen Tag vielleicht nach denen in unserer Kultur verankerten Vorannahmen zufolge wetterkompatibler anfühlt, scheint der so fest darin verankerte Fatalismus nicht mehr so greifbar.
Stattdessen spendete sie mir ein seltsames Gefühl des Trostes in einem neuen und unvorhergesehenen Kontext – wenige Stunden zuvor bin ich zu der Nachricht aufgewacht, dass Donald Trump in das mächtigste politische Amt der Welt wiedergewählt wurde. Ich kann nicht genau sagen, warum, ist schließlich auch meine Sprache weder universell noch perfekt. Was ich aber weiß: Die »Ununiversalität« jeder Art von Kunst stellt für mich kein Manko dar, sondern eine ihrer besten Eigenschaften. Sie stellt sicher, dass alle Kunst und damit auch die Musik unendlich formbar ist, ebenso von der Intention und Methodik ihrer Schöpfer*innen geprägt wie von den Kontexten, in denen sie rezipiert wird. Was bedeutet, dass selbst vermeintlich »düstere« Musik die düstersten Tage erhellen kann.