Found Sounds #3

Mit Grüßen aus dem Feld

28. Januar 2025 | Kristoffer Cornils

Zwei Musikkasetten vor weißem Hintergrund.
©field notes

In der dritten Ausgabe seiner Kolumne Found Sounds stellt Kristoffer Cornils Alben vor, die mit Field Recordings arbeiten und ihr Publikum so mit anderen Realitäten konfrontieren. Mit dabei sind neue Veröffentlichungen von Gavin Vanaelst, Daniela Fromberg und Stefan Roigk, Katharina Schmidt, KMRU und anderen.

Als mein field notes-Kollege Christian Blumberg auf ein Album stieß, das auf Field Recordings basiert, die der Künstler während seiner Arbeitsschichten für einen Lebensmittel-Lieferdienst gesammelt hat, leitete er es prompt an mich weiter. Christian hatte natürlich Recht mit seiner Vermutung, dass mich Gavin Vanaelsts »Takeaway Loops« auf Edições CN interessieren würde – Musik und Klangkunst, die vermeintlich banales Ausgangsmaterial verwendet, insbesondere Field Recordings aus dem Alltagsleben, faszinieren mich nachhaltig.

Manchmal schicken mich diese Alben auf Reisen, während ich noch an meinem Schreibtisch sitze, wie zum Beispiel »El Tren Fantasma« von Chris Watson, das mich regelmäßig auf eine Zugfahrt durch Mexiko mitnimmt. Oder aber sie ermöglichen es mir, meine (Klang-)Umgebung zu regulieren. Stefan Roigk und Daniela Frombergs Album »Unfamiliar Home« verarbeitet Aufnahmen von der Renovierung ihres Hauses und half mir ironischerweise dabei, den Baulärm zu übertönen, als direkt vor meinem Fenster ein neues Haus hochgezogen wurde. Ich sammle solche Platten wie besessen, weil sie mir eine Flucht aus oder zumindest ein bisschen Eskapismus in meiner Realität ermöglichen.

Vanaelsts Album hingegen konfrontierte mich mit einer Realität, die sich kaum mit meiner eigenen überschneidet. Auch wenn ich nur selten Essen bestelle, weiß ich grundsätzlich über die Arbeitsbedingungen von vertragslosen Arbeiter*innen in der Plattformökonomie Bescheid, nur sehr wenig aber über das Leben der so genannten Rider*innen außerhalb der flüchtigen Momente, in denen ich ihnen auf der Straße begegne. Indem er offenkundig unbearbeitete Aufnahmen aus seinem Alltag einer musikalischen Begleitung gegenüberstellt, die oftmals die grässliche Hochglanzästhetik von Werbemusik aufgreift, erlaubt mir Vanaelst eine Auseinandersetzung mit ihrer Realität.

Natürlich ist die konzeptionelle Prämisse von »Takeaway Loops« zweifach ironisch: Im Mittelpunkt steht eine Industrie, die auf dem Unwillen der Menschen beruht, das Haus zu verlassen – während das Album seinem Publikum Einblicke in eine Erfahrungswelt liefert, die so zurechtgeschnitten wurden, dass sie häppchenweise zu Hause konsumiert werden können. Dies erscheint zwar zynisch, schafft aber auch Raum für Empathie mit entmündigten Arbeiter*innen. Auch Rose Actor-Engels jüngstes Album unter dem Namen »apologist« verbindet die Reflexion komplexer Prozesse mit einem nachfühlbaren Ansatz: »Philadelphia« basiert auf Field Recordings, die an ihren früheren Wohnorten angefertigt wurden, und ist ebenso persönlich geprägt wie es politische Veränderungen zum Ausdruck bringt.

Im Rahmen eines buchstäblich aleatorischen Bearbeitungsprozesses fügte die No Rent-Mitbegründerin Actor-Engels üppige Synthesizer- und sogar Streicherklänge zu Verkehrslärm, spielenden Kindern, Vogelgezwitscher und anderen Ausdrucksformen des städtischen Lebens hinzu. Das Ergebnis ist eine dichte, vielschichtige Sinfonie einer Großstadt mit Seltenheitswert. Das macht »Philadelphia« geistesverwandt mit Flin van Hemmens selbstveröffentlichtem »Luxury of Mind«, einem Album, das anscheinend nach einer persönlichen Krise entstand und Trost in einem Alltagsleben findet, dessen Klangwelt es spärliche, aber nuancierte musikalische Interventionen gegenüberstellt, die sogar geisterhafte Chorpassagen beinhalten. Beide Alben reißen die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt ein.

Das gilt auch für die beiden jüngsten Soloprojekte von Katharina Schmidt, die fast zeitgleich mit einer Live-Kollaboration der Schlagzeugerin mit Adrian Baker und Han-earl Park, »Thoughts of Trio«, erschienen sind. »One Day« für Midira und »If & When« auf Elm Records haben beide einen persönlichen Unterton. Während ersteres, geschrieben und aufgenommen 2021, mit Drones und Geräuschen arbeitet, um »Muster und Wege in Chaos und Zufälligkeit« zu erforschen, wie es der in Berlin lebende Klangkünstler selbst ausdrückt, präsentiert sich letzteres als eine »Meditation über musikalische und psychologische Zeit«, die glatte synthetische Drones mit Field Recordings kombiniert. Die Titel der beiden Stücke, »December 1999« und »August 2000«, rahmen sie als mnemotechnische Hilfsmittel ein. Das macht diese wunderbar wohligen Stücke hochgradig evokativ: Erlauben sie uns, Raum und Zeit zu durchqueren?

Die zeitliche und damit historische Dimension vieler Field Recordings ist auch für Tahlia Palmer von großer Bedeutung, die Musik unter dem – eventuell augenzwinkernden – Namen Amby Downs veröffentlicht. »kinjarling studies: soundtracks (five years on)« für Lawrence Englishs Label Room40 basiert auf Aufnahmen für Videoarbeiten, die erstmals in Vancouver präsentiert wurden. Kinjarling bedeutet übersetzt »Ort des Überflusses« und bezieht sich auf das von den Mineng bewohnte Land im Südwesten dessen, was heute gemeinhin als Australien bezeichnet wird. Die Künstlerin lässt sich von einem doppelten oder sogar dreifachen Erbe inspirieren, sie ist Nachkommin dieses Volkes sowie von Überlebenden des Zweiten Weltkriegs aus den Niederlanden, und hat obendrein, wie der Titel eines Stücks verrät, »a lot of scottish ancestry too«.

Palmers Arbeit mit Field Recordings ist geprägt von einem Interesse am »Unterhörten«, wie sie es nennt. Die 16 Stücke machen den Eindruck, als habe die Künstlerin die meisten der tatsächlichen Geräusche entfernt, um das Dröhnen und Rauschen im Hintergrund zu vergrößern, das den Aufnahmeorten eigen ist. Sie wirken leblos, was eine kritische Lektüre geradezu erforderlich macht. Sind dies die klanglichen Überbleibsel einer anderen, vorkolonialen Zeit? Geisterhafte Klänge von Orten, die einst Schauplatz einer organischen Koexistenz zwischen Mensch und Natur waren und nun einer unnatürlichen politischen und kommerziellen Ordnung unterworfen sind? Keine dieser Fragen wird explizit gestellt, was »kinjarling studies: soundtracks (five years on)« umso anregender macht.

Sowohl der ästhetische Fokus auf die kaum hörbaren Klangsignaturen einer Landschaft als auch die (potenziell) politische Dimension von Palmers großartigem Album erinnern an die Arbeit des in Berlin lebenden Klangkünstlers KMRU. Der zweite Teil seiner »Temporary Stored«-Reihe, die 2022 mit einem gleichnamigen Album eröffnet wurde, führt Joseph Kamarus künstlerische Kritik an der »Extraktion [...] von Artefakten, Menschen, Werkzeugen, Klängen, Instrumenten« vom afrikanischen Kontinent durch europäische Institutionen als Fortsetzung kolonialer Machtausübung weiter aus: Sein Quellenmaterial stammt aus den Archiven des Königlichen Museums für Zentralafrika in... nun ja, nicht Zentralafrika, sondern einer kleinen Stadt der vormaligen Kolonialmacht Belgien.

»Temporary Stored II« vereint sieben Stücke von Kamaru mit Beiträgen von Lamin Fofana, Jessica Ekomane, Nyokabi Kariũki und Aho Ssan. Die Art und Weise, wie die Künstler*innen mit verschiedenen ethnografischen Aufnahmen arbeiten, sie neu arrangieren, manipulieren und abstrahieren, ist auch deshalb bemerkenswert, weil sie aus den Stimmen der Vergangenheit neue musikalische Idiome destillieren. Am deutlichsten wird dies in Ekomanes Stück, das möglicherweise auf Trommel- oder Mbira-Klängen basiert, sein Ausgangsmaterial aber zu metallischen, fröhlich hüpfenden Synthesizermelodien transformiert. Es bringt am direktesten ein Potenzial zum Ausdruck, das im Bereich von auf Field Recordings basierender Musik oftmals ungenutzt bleibt: Anstatt bestimmte Realitäten zu reflektieren, kann sie dazu genutzt werden, neue zu schaffen.

Dies geschieht buchstäblich im Fall von »Jenseits der Wand«, einem Album, das zwei begehbare oder besser gesagt Sitz-Installationen von Daniela Fromberg und Stefan Roigk dokumentiert. Dieselben Künstler*innen, die den Sound der Gentrifizierung in eine rumpelnde Klanglandschaft zum Zuhausekonsumieren verwandelt haben, errichteten im ausland im Prenzlauer Berg eigene neue kleine Häuschen und luden ihre Besucher*innen dazu ein, einzutreten und ihren Interpretationen dessen zuzuhören, was Städter*innen täglich aus benachbarten Wohnungen vernehmen. Die drei Stücke sind deshalb so nachhaltig faszinierend, gerade weil sie sich auf die prosaischen Alltagsgeräusche konzentrieren und eine Realität in einer anderen Umgebung vergrößern, um dem Publikum einen neuen Zugang zu der eigenen zu verschaffen.

Das ist der Kern dessen, was all diese Alben aufmerksamen Hörer*innen mit bestem Grüßen aus dem Feld bieten: die Möglichkeit, die eigene Umgebung durch die Konfrontation mit ungewohnten Klangwelten neu bewerten zu können – sei es nun in Hinsicht auf die anhaltenden Auswirkungen und Kontinuitäten des Kolonialismus, die Räume, Städte und Häuser, die wir bewohnen, oder sogar die gelebte Erfahrung der »Markenbotschafter*innen« von plattformkapitalistischen Unternehmen wie Takeaway. Wem etwas Ähnliches unterkommt: Bitte immer prompt an mich weiterleiten!

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