Found Sounds #4

Vielfalt als Zusammenhalt

28. März 2025 | Kristoffer Cornils

Eine Copy einer LP von Raed Yassin
©field notes

In der letzten Ausgabe seiner Kolumne Found Sounds vor der Sommerpause denkt Kristoffer Cornils über Kollaboration und Kooperativen in der Musikwelt nach. Dabei geht es unter anderem um neue Veröffentlichungen von und/oder mit Uli Kempendorff, Raed Yassin, Yoko Ono und dem Kollektiv smallest functional unit.

Jedes Festival ist eine Übung in Vielfalt als Zusammenhalt, nicht allein in musikalischer Hinsicht – ein heterogenes Programm zieht Menschen vieler verschiedener Hintergründe an. An meinem ersten Abend auf dem CTM Festival traf ich etwa alle zwanzig Minuten eine neue Person, die ich seit Monaten oder Jahren nicht mehr gesehen hatte. Auch wenn diese Momente flüchtig waren, boten sie Gelegenheit, sich wieder auf nachhaltigere Weise auszutauschen. »Ich schreibe dir über ...«, sagte ein Freund, den ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, und fügte dann grinsend hinzu: »Welche Plattform dürfen wir denn noch benutzen?«

Kaum eine Woche nach der Amtseinführung von Donald Trump zielte dieser Witz auf den vorauseilenden Gehorsam der Tech-Milliardäre ab, die plötzlich mehr als bereit schienen, ihre Plattformen an den kulturellen Wandel anzupassen, den die Veränderung der politischen Landschaft sowohl repräsentierte als auch förderte. Heute sind wir uns mehr denn je bewusst, dass die Fütterung dieser Plattformen mit unsere Nutzungsdaten unserem sozialen Leben sowohl individuell als auch kollektiv schadet – und dass wir Wege finden müssen, sie zu umgehen, wenn wir wieder wirklich sozial sein wollen.

Bemerkenswert schien mir, dass der kurze Austausch im Rahmen eines Musikfestivals stattgefunden hat, an einem der Orte also, die als temporäre Treffpunkte zwischen dem Internationalen und dem Lokalen, unterschiedlichen Standpunkten und geteilten Interessen dienen. Ich würde meinen, dass die Welt viel von der Musikszene lernen kann: Ihre Mitglieder wissen ein buchstäbliches Lied davon zu singen, wie aus der Vielfalt heraus Zusammenhalt entstehen kann, was auch den Aufbau eigener Infrastrukturen einschließt. Ist doch die Zusammenarbeit mit anderen aller Unterschiede zum Trotz der Kern ihrer Arbeit.

Nehmen wir als Beispiel Uli Kempendorff, den vormaligen Jazz-Korrespondenten von field notes. Er ist einer der produktivsten Musiker*innen der hiesigen Jazzszene. Als Saxofonist bringt er ein Instrument mit, das in vielen Konstellationen eher die Hauptrolle spielt, doch Kempendorff ist durch und durch Teamplayer. Im Jahr 2019 schloss er sich dem Julia Hülsmann Quartet an, das nun mit einer neuen LP auf ECM zurückkehrt. »Under the Surface« zeichnet sich durch einen egalitären Ansatz aus, der in nuancierter Musik resultiert, die von den unterschiedlichen Stimmen der einzelnen Musiker*innen getragen wird.

Auch Kempendorffs eigenes Quartett Field mit Christopher Dell am Vibrafon, Jonas Westergaard am Bass und Schlagzeuger Peter Bruun meldet sich mit einem neuen Album zurück, »Who Are You Sending This Time?« auf Unit. Die acht Stücke sind ähnlich geprägt von gegenseitigem Respekt und viel Aufmerksamkeit füreinander, verfolgen aber einen eher texturalen Ansatz – sie schaffen unterschiedliche Klangereignisse, die auf eine Weise miteinander korrespondieren, die in einer ganzheitlichen Gesamtästhetik mündet. Das lässt dieses Album etwas wilder erscheinen als »Under the Surface« mit seinem vergleichsweise entspannten, an Kompositionsarbeit orientierten Ansatz.

Das macht »Who Are You Sending This Time?« zu einem Bindeglied zwischen diesem Album und »The Excruciating Pain of Boredom« (VÖ: 16. Mai) des Felix Henkelhausen Quintet, in dem Kempendorff ebenfalls Mitglied ist. Das Album wurde live in Köln und Berlin aufgenommen, ist vom Geist der Improvisationen geprägt und unerbittlich energetisch. Zusammengenommen unterstreichen diese drei Platten die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit von Kempendorff und beweisen, dass sie in der Welt des Jazz sehr versiert darin sind, ihre eigenen Infrastrukturen aufzubauen und sich frei zwischen ihnen zu bewegen.

Die Praxis der Improvisation ist eine Form der Interdependenz als Zusammenspiel von Menschen, die aufeinander angewiesen sind. »Rotations+« bietet ein weiteres Beispiel dafür. Sven-Åke Johanssons Interpretationen seiner eigenen »Stumps«-Kompositionen zusammen mit Axel Dörner, Joel Grip, Pierre Borel und Simon Sieger werden zeitgleich mit diesem Album bei Trost veröffentlicht.– Hier tut er sich mit Trompeter Franz Hautzinger und Turntablist Ignaz Schick zusammen, um mit dieser Aufnahme eines improvisierten Sets im Neuköllner KM28 ein überzeugendes Beispiel dafür zu liefern, wie drei sehr unterschiedliche Musiker mit gemeinsamer Kraft simple Ideen zu ihren logischen Schlussfolgerungen führen können.

Der Berliner Echtzeitmusik-Vordenker Ignaz Schick hat sich wiederum für die Veröffentlichung von »Pips and Strains« auf dem Leipziger Label Grubenwehr Freiburg [sic!] mit dem Hamburger Posaunisten und Klangkünstler Felix Mayer zusammengetan. Während die beiden im ersten Stück ein wunderbar lysergisches, texturales Miteinander schaffen, kombiniert Mayers Solo-Beitrag gestrichene Instrumente und Objekte mit Grammofon- und Fonografengeräuschen, derweil Schick in seinem Solo-Stück eine aggressivere Seite seines Schaffens zeigt und mit Plattenspielern und einem Sampler eine dynamische Noise-Collage zusammenwebt.

»Pips and Strains« ist eine Veröffentlichung voller Kontraste, ähnlich wie die erste Zusammenarbeit von Ivan Pavlov alias CoH und der in Berlin lebenden Komponistin Midori Hirano. Im Verlauf des Albums mit dem rätselhaften Titel »Sudden Fruit« für Ici d'ailleurs bewegen sich die beiden zwischen Konkretion und Abstraktion und betten Hiranos Klavierklänge in elektronische Umgebungen ein, die emotionale und atmosphärische Ambivalenzen erzeugen. Das unterstreicht, wie – pardon – fruchtbar die Resultate sein können, wenn ästhetische Unterschiede nicht nur gegenseitig anerkannt, sondern durch einen Akt der kreativen Integration zusammengeführt werden.

Das Gleiche gilt für »The Dream Border«, ein Kollaborationsalbum von drei Musiker*innen auf Cedrik Fermonts Label Syrphe, das als Plattform eine einheitliche Anlaufstelle für eine Vielzahl von musikalischen Ansätzen bietet. Mit dem Labelbetreiber an Gongs und Elektronik sowie Dora Bleu an Gesang und Gitarre und Periklis Tsoukalas an der Medusa, einem Instrument, das er mit Hilfe von Melike und Simge Güler und Hüseyin Yıldız entwickelt hat, sind diese zehn Stücke wohl am besten als Musik zu verstehen, die buchstäblich grenzwertig sein will – die als Schwelle fungiert zwischen einer Welt und der anderen, und seien es nur die von Pop-Songwriting und Drone-Musik.

Beispiele für solcherlei musikalischen Austausch finden sich vermehrt. Vor Kurzem erschienen »Summen« des in Berlin lebenden Komponisten und Schlagzeugers Max Andrzejewski, ein wunderbar wildes Projekt, das in Zusammenarbeit mit vier Mitgliedern des Ensemble Resonanz realisiert wurde. Für das überragende Album »Primer« suchte das Ensemble Modern Verstärkung von Synthesizer-Zauberer Hainbach. Und das ausladende Doppel-Tape »Live at Berghain« (eigentlich in der Kantine am Berghain aufgenommen, aber nun gut) von Gellért Szabó und seinem Ideal Orchestra eint mit den anderen Releases eine ähnliche Leitidee im Hinblick auf eine gleichberechtigtere Verbindung von Musiktraditionen, Künstler*innen und ihren Instrumenten sowie verschiedenen Publika.

Vergleichbares gilt für die AGGREGATE-Reihe von Marion Wörle und Maciej Śledziecki von gamut inc., die derzeit die fünfte Ausgabe ihres Festivals für »automatisierte Pfeifenorgeln in der Musik des 21. Jahrhunderts« vorbereiten. Alle, die einige oder sogar alle früheren Ausgaben verpasst haben, können dank der Veröffentlichung von »AGGREGATE – New Works for Automated Pipe Organs« bei Naxos einige der Aufführungen nachholen. Bei der Sammlung mit Vor-Ort-Aufnahmen von Werken von Conlon Nancarrow, Jessica Ekomane, gamut inc. und anderen handelt es sich um eine umfangreiches Doppel-CD, die sich ebenso massiv wie intim anfühlt – und einmal mehr unterstreicht, dass Festivals wie dieses auf mehr als einer Ebene Experimentierfelder eröffnen.

Derselbe Geist hallt auch durch »Selected Recordings from Grapefruit«, einer umfassenden Zusammenstellung von Aufführungen des Great Learning Orchestra, die auf Yoko Onos bahnbrechenden »Grapefruit«-Textkompositionen basieren und bei Karlrecords erschienen sind. Diese Veröffentlichung ist nicht nur ein essenzielles Dokument einer entscheidenden Zeit in der Musikgeschichte – die Verbindung von Onos feministischem Ansatz und den egalitären Ambitionen des Great Learning Orchestra, so dogmatisch sie bisweilen erscheinen mögen, dient auch als Erinnerung daran, dass es eine reiche Tradition sozial und politisch engagierter Avantgarde-Musik gibt.

In ebendiese Tradition reihen sich die beiden Compilations »24.1: Resistance 1« und »24.2: Resistance 2« auf dem in Teheran gegründeten und nunmehr in Berlin ansässigen Label Noise à Noise ein. Mit insgesamt 47 Tracks versammeln sie ein internationales Aufgebot an Komponist*innen elektronischer und experimenteller sowie zeitgenössischer Musik. Ein konkretes politisches Statement ist zwar nicht intendiert, doch legt die zweiteilige Veröffentlichung den Fokus auf die »stille Kraft des Zuhörens, des Mitgefühls und der Ausdauer« und ist unterschiedlichen Communitys gewidmet, die mit Unterdrückung und Konflikten konfrontiert sind, darunter die Kurd*innen, die palästinensischen und israelischen Bevölkerungen sowie die Menschen in Ukraine.

Die Zukunft Ukraines ist derzeit ungewiss, doch der Widerstand, wie ihn Noise à Noise mit der beeindruckenden Doppel-Compilation zum Ausdruck bringt, ist dort nach wie vor ungebrochen. Musik und die durch sie geknüpften und gefestigten Verbindungen spielen in diesem Zusammenhang weiterhin eine entscheidende Rolle. Kyivpastrans’ Fundraising-Compilation  »Drones for Drones, Volume 3« gehört ebenso dazu wie die Fortsetzung der umfangreichen Musik-Compilation und Interview-Anthologie »Field Notes« von Autor Gianmarco Del Re für das Label система system. »Ukrainian Field Notes Volume II« bietet Einblicke in das zweite Jahr der Invasion des Landes.

Geschichte zu dokumentieren und zu archivieren ist auch ein Antrieb hinter Raed Yassins überwältigendem Album »Phantom Orchestra« für Rabih Beainis Label Morphine Records. Entstanden aus mehr als 1.000 Minuten improvisierter Aufnahmen, die im Herbst 2021 im Morphine Raum von einigen der wichtigsten Akteur*innen der Berliner Szene angefertigt wurden, verkörpert es am besten das Konzept der Vielfalt als Zusammenhalt, um das es in dieser Ausgabe der Kolumne Found Sounds geht. Es ist ein unumstößliches Meisterwerk, das noch Monate und Jahre nachhallen wird – zeigt es doch, wie individuelle Beiträge zu kollektiven Projekten mehr ergeben können als die bloße Summe ihrer Teile.

Das alles führt uns zu dem Problem der Plattformen zurück, auf die wir uns im Alltag mittlerweile viel zu sehr verlassen. Wenn die vorigen Beispiele uns etwas gelehrt haben sollten, dann dass die Musikwelt uns beibringen kann, wie die Kollaboration verschiedener Akteur*innen neue Bindungen schaffen und verstärken können und wie dabei für Fortschritt gesorgt wird. Doch sind diese Allianzen nicht selten temporärer Natur, weshalb sich umso mehr die Notwendigkeit aufdrängt, sich mit Formen der Kooperation auseinanderzusetzen – mit Musiker*innen also, die selbst ihre eigenen Plattformen aufbauen, kontrollieren und leiten.

Ein Beispiel dafür findet sich in der Berliner Szene in Form der smallest functional unit. Unter diesem augenzwinkernden Namen haben sich Magda Mayas, Mazen Kerbaj, Racha Gharbieh, Tony Buck und Ute Wassermann im Jahr 2020 zur Gründung eines eigenen kleinen Verlags zusammengeschlossen und seitdem die Anthologieserie »Graphème« herausgegeben, in der visuelle Partituren dokumentiert werden. Diese Publikationen sind ausdrücklich dazu gedacht, die Zusammenarbeit zwischen Komponist*innen und Interpret*innen zu fördern. Die kürzlich erschienene vierte Ausgabe enthält neue Stücke von Elo Masing, Rana Al Bana, Raven Chacon und anderen.

Besonders eindrucksvoll ist Magda Mayas’ Komposition »Murmurs«, die mit Bildern von fliegenden Vogelschwärmen arbeitet. Und was sind diese so genannten Murmurationen (Schwarmverhalten von Vögeln, Fischen oder Insekten) anderes als Vielfalt als Zusammenhalt in Aktion? Als Prinzip sollte das richtungsweisend werden, wollen wir resilient, wenn nicht sogar resistent gegenüber dem Kommenden bleiben. Der Aufbau eigener, flexibler Plattformen sollte dabei eine wichtige Rolle spielen – weshalb die Beispiele der genossenschaftlich betriebenen Streaming-Plattform Catalytic Soundstream sowie von Künstler*innen mitbetriebene digitale Marktplätze wie Mirlo und die in Kürze an den Start gehenden Subvert und Tone ebenfalls unsere Aufmerksamkeit verdienen.

Ähnlich wie die Musik in dieser Ausgabe von Found Sounds können diese Plattformen als musterhafte Modelle dienen, wie kollektive Kontrolle über Infrastrukturen Verbindungen zwischen verschiedenen Gruppen von Menschen schaffen und erleichtern können. Sowohl im Hinblick auf die Musikwirtschaft als auch ganz allgemein auf gesellschaftlicher Ebene müssen wir noch zuvor das Monopol der großen Plattformen auf unsere kollektive Vorstellungskraft aufbrechen. Das muss nicht zwangsläufig ein kompliziertes Unterfangen sein. Ich zumindest schicke gleich eine kurze E-Mail an den Freund, den ich kürzlich beim CTM Festival gesehen habe.

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