Wie klingt die Sinnlichkeit?

Interview mit Rebecca Saunders und Enno Poppe

16. Mai 2025 | Sebastian Hanusa

Rebecca Saunders vor einer Wand voller Partituren.
©Astrid Ackermann

Am 20. Juni kommt »Lash. Acts of Love – Love, Mute, Loss« von Rebecca Saunders an der Deutschen Oper Berlin zur Uraufführung. Das Stück entstand als Auftragswerk des Hauses und ist, nach einer Reihe von Raumkompositionen und installativen Arbeiten, Saunders’ erste Oper. Die Textgrundlage stammt von dem britischen Videokünstler und Autor Ed Atkins, der gemeinsam mit Saunders das Libretto verfasst hat. Ihre erste Begegnung hatten sie 2017 bei einem Perspektivwechsel von field notes und dem Musikfest, wo sie über den Einsatz von Sprache und Gesang in ihrer Kunst sprachen. Die musikalische Leitung übernimmt Enno Poppe, und für die Inszenierung ist das irische Theaterkollektiv Dead Centre verantwortlich. Mitte März, drei Monate vor der Uraufführung und einige Wochen nach der Fertigstellung der Partitur, traf sich Sebastian Hanusa, der Stückdramaturg der Produktion, mit Rebecca Saunders und Enno Poppe zum Gespräch.

Es hat eine Weile gedauert, bis du dich darauf eingelassen hast, eine Oper zu komponieren, obwohl deine Musik eine stark theatrale Qualität hat, Rebecca. Warum jetzt der Schritt zur Oper?

Rebecca Saunders (RS): Ein wenig hat es mich selbst überrascht, nachdem ich über Jahrzehnte hinweg »Nein« gesagt habe. Das aber auch, weil ich noch nicht die richtige geschriebene und gesprochene Sprache gefunden hatte. Es war eine lange Reise, einen Weg zu finden, mit Text zu arbeiten. Seit ungefähr 2015 habe ich wahnsinnig viel mit der Stimme ausprobiert, in verschiedenen Konstellationen. Und jetzt war für mich der richtige Zeitpunkt, nachdem ich 2021 das Stück »Us Dead Talk Love« für Noa Frenkel und das Ensemble Nikel geschrieben hatte. Das Stück basiert auf einem Text von Ed Atkins. Und diese Sprache hat bei mir etwas ausgelöst. Es war dieses Potenzial von Expressivität, aber auch ein Schreiben, das sich mit Themen befasst, die mich mein Leben lang beschäftigt haben und die auf einer sehr tiefgreifenden Ebene meiner ganzen Musik unterlegt sind.

Was sind das für Themen, die dich beschäftigen? Der Titel »Lash« verrät ja schon ein wenig.

RS: Er ist so vieldeutig und man weiß nicht genau, worum es geht. Es hängt sehr von der eigenen, subjektiven Perspektive ab, was man darunter versteht. Es könnte auf »Lashings of Rain«, peitschende Regenfälle, verweisen, oder, man geht »On the Lash« wenn man abends trinken geht. Wörtlich heißt »Lash« eigentlich »Wimper«, und das ist die wesentliche Bedeutung. »Lash« kann aber auch viele sexuelle Bilder hervorrufen und bedeutet zudem »Peitsche«. Es sind für mich damit Themen verbunden, die auch schon im Titel von »Us Dead Talk Love« anklingen. Der Text ist dem gleichnamigen Kapitel aus Eds Buch »A Primer for Cadavers« entnommen. Und Texte dieses Buches sind auch die Basis für das Libretto der Oper. In der geht es für mich um Sex und Liebe, aber auch um den Tod und wie diese drei Themen eng miteinander verbunden sind, quasi »intim miteinander tanzen« – auch in unserem alltäglichen Leben.

Wie hast du die Texte von Ed Atkins kennengelernt?

RS: Wir haben uns 2017 kennengelernt, bei einer gemeinsam von field notes und den Berliner Festspielen organisierten Veranstaltung. Ich hatte damals einige Konzerte beim Musikfest in der Philharmonie und er eine Ausstellung im Gropius Bau. Dann wurden wir zu einem gemeinsamen Podiumsgespräch eingeladenen. So kamen wir zusammen, haben eineinhalb Stunden miteinander gesprochen – und ich war gefesselt. Er beschäftigte sich damals mit Themen, die auch für mich dringlich waren. Seither sind wir im Austausch. Eds Sprache ist so unfassbar sinnlich! Es gibt Momente von ungeheurer Fallhöhe, wo man von einer Welt in eine andere hinunterstürzt, so dass es einem die Schuhe auszieht. Manchmal wird man geradezu attackiert von seiner Sprache, er greift einen an, nimmt einen aber auch mit in diesen Rausch von Bildern und Andeutungen. Ich finde seine Sprache stark inspirierend. 

Enno, du kennst Rebeccas Musik über viele Jahre hinweg und hast schon zahlreiche ihrer Stücke dirigiert und auch uraufgeführt. Wie hat die Begegnung mit Ed Atkins ihre Musik verändert?

Enno Poppe (EP): Die Musik von Rebecca war immer schon unheimlich intensiv und expressiv, aber »Us Dead Talk Love« war noch einmal ein Durchbruch, mit diesem Text und mit dieser Direktheit, aber auch mit dieser fantastischen Sängerin Noa Frenkel. Sie bringt einen solchen Schmerz zum Ausdruck, aber auch etwas ungemein Bedrohliches. Dazu die vier Instrumente Saxofon, E-Gitarre, Schlagzeug und auch hier schon einer dieser Korg Vintage-Synthesizer. Aber auch eine alte Keksdose, die in der Lage ist, ganz laut zu schreien. Also einfach ein Metallobjekt, das ganz blöd aussieht, aber so gespielt wird, dass es einen unglaublichen Schmerz zum Ausdruck bringt. Das Stück ist für mich der Schritt hin zu »Lash«.

Die Besetzung mit den vier Darstellerinnen stand schon fest, bevor eine Note komponiert war. Was hieß das für den Kompositionsprozess?

RS: Ich habe mir gewünscht, dass Noa Frenkel und Sarah Maria Sun mit dabei sind, weil sie mit meiner Musik extrem vertraut sind und ich mit ihnen über die Jahre schon sehr viel gearbeitet und ausprobiert habe. Mit Anna Prohaska zu arbeiten, ist eine enorme Ehre für mich. Sie hat eine für mich neue Art von Stimme, die sehr pur, klar und rein klingt. Und gleichzeitig kann sie damit eine riesige Palette an Farben hervorrufen.

Womit wir beim Thema der Oper wären.

RS: Dort geht es um eine Frau, dargestellt auf der Bühne durch vier Frauen. Aber es ist nicht die Geschichte einer Frau, die sich in vier Figuren aufteilt. Vielmehr sind es verschiedene Seiten oder Facetten ein und derselben Figur, die unterschiedlich zum Ausdruck kommen, indem sie von verschiedenen Personen gesagt und gesungen werden. Es ist faszinierend zu sehen, wie unterschiedlich es ist, was für verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten es gibt, wenn unterschiedliche Menschen das Gleiche sagen – oder singen. Jede von uns hat verschiedene Stimmen, verschiedene Persönlichkeiten in sich. Und so stellen die vier Frauen auf der Bühne verschiedene Facetten ein und derselben Figur dar. Ich wollte mit Eds Sprache und mit meiner Musik ein poetisches Gewebe erschaffen, sodass das Publikum ein sinnlich erfahrbares Universum betritt. Die Sinnlichkeit, die körperliche Präsenz der Musik und des Textes sind mir vor allem wichtig.

Und wie entsteht die dramaturgische Form des Stückes?

RS: »Lash« ist höchst dramatisch. Es gibt verschiedene Seinszustände und damit unterschiedliche Szenen, die gegeneinandergesetzt werden, sich überlagern oder miteinander verwoben sind. Es gibt Entwicklungslinien und ein Aufmachen im dritten Akt, wenn das Stück sich ins Auditorium hin öffnet, wenn Musik auch im Zuschauerraum gespielt wird, wenn Musiker auf die Bühne kommen und es auch im Text und im Spiel der Darstellerinnen eine Transformation gibt. Es geht um Dramatik im Sinne der existenziell relevanten, großen Gefühle! Und wir erleben eine Entwicklung hin zu immer stärkeren Kontrasten. Am Anfang fließt das Stück eher wie ein Strom, der sehr stark aus der Melodie heraus geboren ist. Und je länger das Stück geht, desto stärker unterscheiden sich die einzelnen Szenen voneinander. Die sind dann lustig, schnell, sehr langsam, sehr laut usw.

EP: Die Partitur enthält eine unglaubliche Fülle an tollen Ideen. Was mich tatsächlich aber am allermeisten überrascht hat, ist, wie viele Melodien in diesem Stück enthalten sind. Man würde erst einmal denken, dass Melodie etwas Traditionelles ist, ein Rückblick in die gute alte Zeit, in der die Oper immer voll von Melodien war. Aber ich finde, für dieses Stück kann man sagen, dass es voller Melodien ist, die, frei von Sentimentalität, eine komplett neue Welt erschließen. Das liegt sicher auch daran, dass Rebecca so eng mit den Sängerinnen zusammengearbeitet hat und sich so nah an ihren jeweiligen Stimmen und deren Klang bewegt hat. Und das setzt sich bei den Instrumenten fort. Die Musiksprache von Rebecca Saunders ist sehr stark von unheimlich persönlichen Klängen getragen. Sie gibt eigentlich allen Instrumenten spezifische Klänge, wobei sich spieltechnische Aspekte direkt mit dem Ausdruck in einer ganz besonderen Art und Weise zu spielen verbinden.

RS: Wobei ich dazu sagen möchte: Es geht um das Ganze, darum, dass ich diese Reise mit Ed Atkins gemeinsam gemacht habe, wir gemeinsam mit dem Publikum eine Welt erkunden wollen und dabei teilnehmen an einer Aufführungssituation, an der Musik und an Eds Poesie. Wir sind auf der Suche nach etwas, das ich als Komponistin so nicht verbalisieren kann und das auch er mit seinen Worten eher umkreist. Es hat etwas mit dem eigenen Körper und dessen Wahrnehmung zu tun: »Lash«, Haut, der Augapfel, die Oberfläche der Haut, eine Wunde in der Haut, die Wahrnehmung von dem Mund, wie die Sprache aus dem Mund hervorkommt. Die Haare. Ed hat sinngemäß gesagt, dass die Frau durch die Nähe ihres eigenen Körpers ihre Sterblichkeit entdeckt. Und diese ist wiederum Voraussetzung für die Liebe und das Leben. Diese Begegnung von Tod und Liebe, die Intimität des Todes. Es ist dieses Paradox, um das es geht. Oder auch einfach die Frage: Wie klingt die Sinnlichkeit?

»Lash. Acts of Love – Love, Mute, Loss«
Deutsche Oper Berlin Fr., 20.06., 18 Uhr Uraufführung, weitere Vorstellungen: Fr., 27.06., Di., 01.07., Fr., 11.07., Fr., 18.07., jeweils 19.30 Uhr

  • Interview