Zeitlichkeit der elektronischen Musik von Sebastian Berweck

field notes #10

1. Januar 2019 | Sebastian Berweck

Elektroakustisches Studio

Mit der Zeitlichkeit der elektronischen Musik ist es so eine Sache, denn so rasant wie ihr technischer Fortschritt verläuft, so nahezu gedächtnislos rauscht sie an uns vorüber. Sicher, man kennt so ungefähr die Daten: Thaddeus Cahills Telharmonium: 120 Jahre. Ferruccio Busonis erweiterte Ausgabe seines »Entwurfs«: 100 Jahre. Trautonium: 80 Jahre, Ondes Martenot und die Studios in Paris und Köln: 70 Jahre, amerikanische elektronische Musik: 60 Jahre, Synthesizer: 50 Jahre, Hardware Sampler: 40 Jahre, Max/MSP: 30 Jahre, Laptop: 20 Jahre, Renaissance der analogen Elektronik: 10 Jahre. Nur was ist davon geblieben? Die meisten Instrumente werden schlichtweg nicht mehr gebaut und die dafür geschriebene Musik verschwindet auf Nimmerwiedersehen in den Archiven. Woher rührt diese Kurzlebigkeit?

Ein möglicher Grund könnte sein, dass viele dieser Geräte erfunden wurden, um einen bestimmten technischen Zweck zu erfüllen: die Hammond-Orgel, um die echte Orgel zu ersetzen. Der Synthesizer, um alle Instrumente zu ersetzen. Der Sampler, um jetzt aber wirklich alle Instrumente zu ersetzen. Und Max, um alle Instrumente dann auch gleichzeitig zu spielen. Dass damit aber wiederum originäre Instrumente erschaffen wurden, wird erst in der Rückschau deutlich, vor allem wenn die Preise der zuvor als Elektroschrott gehandelten Geräte in ungeahnte Höhen schnellen. Aber so richtig realisiert haben wir das noch nicht. Oder wann haben Sie, verehrte Leser*innen, das letzte Mal jemanden neue Musik auf einem Akai S1000 spielen hören? Oder auf dem Moog Minimoog? Live? Ich habe noch niemanden getroffen, der von dem Klang dieses Instruments nicht bezaubert war. Gleichwohl kenne ich aber auch kein einziges Stück neuer Musik, das für den Minimoog geschrieben wurde. Dass es keines gibt, scheint unwahrscheinlich, es ist wohl eher so, dass die Stücke erinnerungslos verschwinden. Denn wo sind die 49.000 Werke, die Folkmar Hein in seiner EMDoku (Internationale Dokumentation Elektroakustischer Musik) versammelt hat und die sicher nur einen Teil der gesamten Produktion ausmachen? Sie sind bis auf die wenigen, die im Kanon der Musikgeschichte gelandet sind, wie vom Erdboden verschluckt.

Vielleicht können wir uns der Frage nach der Vergänglichkeit der elektronische Musik nähern, indem wir uns daran erinnern, wer Beethoven, Schubert, Lachenmann, Ligeti und Spahlinger spielen möchte: Es sind die Interpret*innen, die als Kinder »Für Elise« hören, daraufhin Klavier spielen wollen, später eventuell an Musikhochschulen studieren und so ihr eigenes Repertoire aufbauen. Diese Strukturen fehlen in der elektronischen Musik fast vollständig. Denn im Hochschulbetrieb wird elektronische Musik nur im Kompositionsstudiengang gelehrt, eine instrumentale Ausbildung hingegen gibt es nicht. Und so fehlt der elektronischen Musik der wichtigste Multiplikator, nämlich die Interpret*innen, die das musikalische Erbe lebendig halten. Bis sich das ändert, bedeutet Zeitlichkeit in der elektronischen Musik vor allem, dass die Mehrzahl der Stücke recht bald das Zeitliche segnen.

– Sebastian Berweck

Sebastian Berweck ist einer der gefragtesten Interpreten für experimentelle zeitgenössische Musik. Neben erweiterten Spieltechniken und szenischer Arbeit liegt ein Schwerpunkt seiner Arbeit in der (Wieder-)Aufführung von elektronischen Stücken. Zusammen mit Silke Lange und Martin Lorenz präsentiert er am 18. Januar im Rahmen von Ultraschall Berlin eine aufwändige Rekonstruktion von Bernard Parmegianis »Stries« (1980) für Tonband und Synthesizer sowie »Music of the Spheres« (1938) von Johanna Beyer. Am 20. Januar folgt die deutsche Erstaufführung des Konzerts für hyperreales Klavier und Orchester von Malte Giesen.

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