»Kunst kann nie nicht politisch sein!«

Roundtable über den Kulturkampf von rechts

25. April 2024 | Kristoffer Cornils

Destruction Loops, Bild einer Installation in einem Galerierau,
©»Destruction Loops« © Hainbach/IMPULS Festival

Rechtspopulistische und rechtsextreme Positionen sind bereits dabei, sich in den Parlamenten breit zu machen – allein schon deshalb, weil sich die demokratischen Parteien ihnen immer weiter annähern. Welche Auswirkungen hat das auf Kunst und Kultur? Julian Rieken weiß das nur zu gut: Als Künstlerischer Leiter des Festivals IMPULS in Sachsen-Anhalt wird er seit Jahren von der AfD und aus dem weiteren Umfeld der Partei beleidigt und bedroht, im Jahr 2021 strich die Landesregierung unter Führung der CDU dem Festival für Neue Musik sogar kurzzeitig die Mittel. Auch Simon Brost kennt solche Geschichten. Er bietet bei der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) in solchen Fällen Hilfe. field notes-Redakteur Kristoffer Cornils sprach mit den beiden über die Strategien von AfD und der Neuen Rechten, Grenzziehungen und positive Gegenentwürfe.

Simon, wovon sprechen wir überhaupt, wenn wir über Kulturkampf von rechts reden?

Simon Brost: Kunst und Kultur bieten Freiräume an, die gegen harsche Widerstände erkämpft werden mussten und deren Existenz uns lange selbstverständlich schien. Derzeit aber beobachten wir, wie sich eine rechtspopulistische beziehungsweise rechtsextreme Partei anschickt, in den Parlamenten zur mitbestimmenden Kraft zu werden und das infrage zu stellen. Sie vertritt ein Verständnis von Kultur, das auf einer Art von nationaler Erbauung, Identitätsstiftung und Bestätigung beruht. Sie will eine bestimmte Leitkultur, der man sich unterwerfen soll. Damit geht einher, dass Freiräume wieder geschlossen werden sollen. Das ist ihr expliziter Anspruch und steht sogar im Wahlprogramm. Im selben Zug richtet sich dieser Kulturkampf gegen all diejenigen, die dabei nicht mitspielen und sich gegen die ideologische Vereinnahmung von rechts stellen. Dabei geht es nicht allein um die AfD, sondern ebenso ihr politisches Vor- und Umfeld, das sich selbst als Neue Rechte bezeichnet und den Kulturkampf dezidiert als Strategie verfolgt, um Einfluss zu gewinnen, rechtes Denken zu verbreiten und hegemonial zu machen.

Ihr seid in Berlin aktiv. Ist dieser Kulturkampf mittlerweile auch hier angelangt oder sitzen wir weiterhin auf einer Insel der Glückseligen?

Brost: Wir haben bereits in den Jahren 2016 und 2017 gemerkt, dass sich verstärkt Kulturinstitutionen an uns wenden, die ähnliche Fragen haben und vor ähnlichen Herausforderungen stehen. Was heißt es, wenn eine Partei mit solcher Programmatik in die Landesparlamente und absehbar auch den Bundestag einzieht? Was bedeutet das für unsere Finanzierung? Mit welchen Versuchen der Einflussnahme aus den Parlamenten müssen wir rechnen? Davon ist Berlin sogar in besonderem Maße betroffen, weil die Stadt und ihre Kulturlandschaft von rechts als Feindbild stilisiert werden. Die Vorwürfe kennen wir: Steuergeldverschwendung, Selbstreferenzialität, Abgehobenheit. Das lässt sich aufgrund der Nähe zur Politik in Berlin noch leichter konstruieren als anderswo. Denken wir an die Correctiv-Recherche, die Pläne über Massenvertreibungen aufgedeckt hat. Das wurde künstlerisch in enger Kooperation mit dem Berliner Ensemble als Theaterstück umgesetzt. Der kulturpolitische Sprecher der AfD hat daraufhin eine Anfrage gestellt, das ist ein sehr beliebtes Mittel. Im Subtext der Fragestellungen schwingen immer gewisse Unterstellungen mit. Die AfD nutzt das als Strategie, um Kunst und Kultur zu diskreditieren und letztendlich ihre Finanzierung infrage zu stellen. Als an der Schaubühne »FEAR« von Falk Richter inszeniert wurde, das sich als Theaterstück auf künstlerische Art und Weise mit dem Aufstieg der Partei auseinandersetzte, wurde die Palette um Drohungen bis hin zur Sachbeschädigung, Störung der Aufführung und Versuche, die Aufführung juristisch zu unterbinden, erweitert. Richtig ist aber natürlich, dass Kunst und Kultur in Berlin etwas mehr politischen Rückhalt genießen und die Häuser und Institutionen mehr Möglichkeiten haben, auf solche Strategien zu reagieren, als es anderswo der Fall ist.

Werden auch einzelne Künstler*innen ins Visier genommen?

Brost: Wir beobachten vor allem, dass Institutionen und Zusammenschlüsse von Künstler*innen ins Visier genommen werden. Sie werden als steuerfinanzierte Träger*innen einer linken Ideologie diffamiert. Die Argumentation lautet, dass Empfänger*innen staatlicher Gelder die Politik von Parteien nicht kommentieren oder sich politisch positionieren dürfen. So soll Verunsicherung geschaffen werden, was teilweise gelingt.

Damit wären wir beim Fallbeispiel angekommen. Julian, was ging der Streichung eurer Fördermittel im Jahr 2021 voraus?

Julian Rieken: Genau das, was Simon beschrieben hat. Mit dem Einzug der AfD in den Landtag von Sachsen-Anhalt fing es an, dass massiv die Kultur ins Visier genommen wurde. Mit seinen vielfältigen Nachwuchsaktivitäten und internationalen Kooperationen wurde auch das Festival IMPULS, das ich seit 2020 als Künstlerischer Leiter kuratiere, zunehmend verbal und strukturell angegriffen. Insbesondere ein Jugendprojekt mit Geflüchteten aus Syrien und Jugendlichen aus Magdeburg war wohl ausschlaggebend für die intensiveren Angriffe seitens der AfD. Das ging verstärkt mit Anfragen und Einschüchterungsversuchen einher. Zudem bekamen wir beleidigende, antisemitische und einschüchternde Mails und Briefe aus dem rechtsextremen Milieu an unsere Privatadressen geschickt, zweimal waren Platzpatronen dabei. Die AfD nahm uns im Jahr 2021 sogar offiziell in ihr Wahlprogramm auf. Womit wir nicht gerechnet hatten, war, dass die CDU uns tatsächlich die Mittel streichen würde. Es ist gefährlich, dass andere Parteien diesen Populismus aufgreifen, statt sich abzugrenzen. Besonders geschieht das während des Wahlkampfes. Im Jahr 2021 war nicht ganz klar, ob die CDU ihre erste Stelle in der Landesregierung behaupten könnte oder doch die AfD stärkste Kraft werden würde. Das hat dazu geführt, dass uns die Mittel gestrichen wurden, und zwar zur Hochzeit der Corona-Pandemie, in der Künstler*innen und Festivals sowieso schon sehr unter Druck standen. Es setzt ein fatales politisches Signal, wenn das aus der Mitte der Gesellschaft heraus geschieht.

Das Festival fand dennoch statt. Wie ist euch das gelungen?

Rieken: Wir haben uns gewehrt und politische Unterstützung von anderen Parteien erhalten, die den Fall auf die politische Agenda setzten. Wir haben uns vernetzt, auch mit anderen Akteur*innen in Sachsen-Anhalt. Wir haben unser Netzwerk aktiviert, um eine größtmögliche Öffentlichkeit herzustellen. Komponist*innen, Musiker*innen, Festivalkolleg*innen und Journalist*innen reagierten umgehend und offene Briefe, Statements und Social-Media-Kommentare bekundeten ihre Solidarität. Unter dem Hashtag #UnmuteImpuls schlossen sich unzählige Kulturakteur*innen in kreativer und eindrücklicher Weise der Forderung an, die Einstellung der Landesförderung zurückzunehmen. Der Deutsche Musikrat und die Konferenz der Landesmusikräte haben sich eingeschaltet und direkt an die Landesregierung gewendet.  Dank dieser internationalen Welle an Unterstützung konnte das Festival letztendlich stattfinden. Doch obwohl die Finanzierung durch das Land Sachsen-Anhalt zurückgekehrt ist, wurde sie doch sehr stark reduziert und bleibt prekär. Die Situation hat es uns jedoch ermöglicht, neue Fördermöglichkeiten zu erschließen und noch stärker länderübergreifend zu arbeiten.

Simon, spiegelt sich in der Geschichte auch ein Trend wider, dass  demokratischen Parteien sich dem Kulturkampf von rechts anschließen?

Brost: Das ist Teil der Strategie. Das Netzwerk der Neuen Rechten nimmt dabei eine Scharnierfunktion ein und speist bestimmte Diskurse und Begriffe in demokratische rechtskonservative Positionen ein. Es gibt leider Anzeichen, dass das in Teilen gelingt. Das Beispiel IMPULS ist deshalb sehr eindrücklich, weil es beweist, dass demokratische Parteien immer wieder an die Rolle, die sie dabei spielen, erinnert werden müssen.

Dasselbe wird auf sozialer Ebene versucht. Julian, welche Reaktionen gab es aus der Zivilgesellschaft?

Rieken: Wir haben viel Unterstützung aus der breiteren Zivilgesellschaft und der lokalen Bevölkerung erfahren. Es sind Zusammenarbeiten mit regionalen Galerien, der Kunsthochschule in Halle und anderen Institutionen entstanden. Es hat uns ironischerweise viele Türen geöffnet. Was es am Anfang so schlimm machte, war das Gefühl, dass man allein ist; dass man nicht weiß, wie man damit umgehen soll, wie man darauf reagieren soll. Diese Einschüchterungstaktiken werden auch auf Menschen mit Familie angewandt, das ist sehr angsteinflößend. Zu wissen, dass man eben nicht allein ist und es viele Organisationen gibt, die uns zur Seite stehen, und andere, die ähnlichen Erfahrungen gemacht haben – das war sehr, sehr schön. Wir haben versucht, all das auch künstlerisch umzusetzen und vermehrt mit diskursiven Fragestellungen gearbeitet. Wir haben zum Beispiel ein Projekt im Zentrum von Halle umgesetzt – eine Installation, in der es darum ging, wie wir eigentlich in dieser Stadt leben wollen. Wir haben die Menschen eingeladen, sich dazu zu äußern. So wurden die Bewohner*innen der Stadt Teil des Kunstwerks.

Eine andere Installation des Künstlers Stefan Paul Goetsch alias Hainbach widmete sich den Hassnachrichten, die ihr erhalten hattet.

Rieken: Stefan ist ein sehr erfolgreicher YouTuber und hatte sich vorher schon mit der Problematik von Hasskommentaren im Internet künstlerisch auseinandergesetzt. Das IMPULS-Projekt haben wir gemeinsam entwickelt. Ich habe über Wochen diese ganzen Beleidigungen gesammelt und recherchiert, wir haben Protokolle aus dem Landtag durchforstet. Immer wieder haben wir uns gefragt: Ist das richtig? Reproduzieren wir damit den Hass? Wir haben uns aber bewusst dafür entschieden. Es gibt sehr viele Menschen, besonders in der Kulturszene, denen das Ausmaß der Gefahr und ihre realen Auswirkungen vor allem auf regionaler Ebene nicht bewusst sind. Darauf wollten wir hinweisen. Wir haben die Hasskommentare auf Tape-Loops aufgenommen und dann in einer Galerie in Halle installiert. Entlang der Bänder hatte Hainbach Messer und Schleifpapier installiert, die die Aufnahmen Stück für Stück dematerialisiert haben. Am Ende blieb nur die Musik auf einem Band übrig, sie hat den Hass übertönt. Wir haben über Stefans YouTube-Kanal einen Livestream gemacht, mit dem wir weltweit ein großes Publikum erreicht haben. Bei uns meldeten sich Menschen aus Griechenland, aus Italien, der ganzen Welt. Es war auch für mich persönlich ein unglaublich wichtiges Projekt. Ich kann mich noch erinnern, dass ich nachts um ein Uhr morgens in der Galerie war, um den Livestream zu überprüfen. Genau in dem Moment hörte das letzte Band auf, zu klingen. Das war für mich ein unglaublich berührender, wichtiger Moment.

Zeigt sich darin das sozialpolitische Potenzial der Kunst? Es muss doch einen Grund dafür geben, dass der Kulturkampf von rechts sie so dezidiert ins Visier nimmt.

Brost: Es ist zumindest ein gutes Beispiel dafür, wie sich eine starke Botschaft nach außen senden lässt. Das ist ein gutes Mittel, um der Auseinandersetzung, die Kunst und Kultur von rechts aufgedrängt wird, produktiv zu begegnen und gestärkt daraus hervorzugehen. Kunst und Kultur haben ein besonderes Potenzial, weil sie viele Menschen zusammenbringen und vereinen, die anders auf die Gesellschaft blicken. Diese Anfeindungen erfolgen auch deshalb, weil alles das dazu beiträgt, Bestehendes zu hinterfragen und unsere Gegenwart zu reflektieren. Das wird als Bedrohung erkannt. Dieses Potenzial lässt sich nutzbar machen. Das mag trocken klingen, aber es ist essenziell, zu fragen, wofür wir stehen – wohin wir wollen und was unser Verständnis von Kultur eigentlich von einem antidemokratischen unterscheidet. Wie können wir uns positionieren? Wie können wir Strukturen für Menschen schaffen, die aktiv werden wollen?

Julian, siehst du Tendenzen zu einer Selbstorganisation oder der künstlerischen Auseinandersetzung mit diesen Bedrohungen im Bereich der zeitgenössischen Musik?

Rieken: Die Insel der Glückseligen, von der wir vorhin gesprochen haben, ist vielleicht gar nicht so sehr Berlin – sondern vielmehr die der Szene für zeitgenössische Musik. Während ein großer Teil zeitgenössischer Ausstellungen und Inszenierungen Bezug auf gesellschaftspolitische Themen nimmt, scheint die klassische ebenso wie die zeitgenössische Musik oft noch um sich selbst zu kreisen. Das ließ sich beispielsweise in Lützerath beobachten. Während junge Menschen für ihre Zukunft kämpften, fand fast zeitgleich nicht weit entfernt das von RWE gesponserte Klavierfestival Ruhr ohne jeglichen Bezug zum Kampf fürs Klima statt. Liegt eine solche gesellschaftliche Abkapselung an der Kunstform Musik? Oder an einer vielleicht zu selbstreferentiellen Szene, die noch zu selten über die eigenen Grenzen hinausblickt? Ich wünsche mir von der Szene einen offeneren Umgang und mehr Reflexion über das Thema. Es wird noch zu oft auf rein künstlerischer Ebene diskutiert und auf die Autonomie der Kunst beharrt. Doch Kunst kann nie nicht politisch sein. Sie setzt sich immer mit gesellschaftlichen Fragen auseinander und hinterfragt oder stärkt Machtverhältnisse. Ich wünsche mir, dass sich die Szene für zeitgenössische Musik ihrer Verantwortung bewusst wird und sich diesen Herausforderungen und gesellschaftlichen Fragen stellt, um einen positiven Gesellschaftsentwurf zu zeichnen.

Brost: Zugleich sind auch Grenzziehungen wichtig. Das fällt vielen Menschen in der Kunst und Kultur schwer, weil es ihrem Denken und ihren Überzeugungen zuwiderläuft und sie versuchen, allem diskursiv zu begegnen. Genau das ist aber das Ziel dieser Interventionen. Nein zu sagen, Provokationen und Störungen nicht nachzugeben und Abgrenzungen vorzunehmen, ist jedoch viel eher von Vorteil.

Welche konkrete Handlungsanweisungen versucht ihr diesbezüglich in eurer Arbeit zu vermitteln?

Brost: Letztendlich versuchen wir, die Institutionen darin zu unterstützen, ihre eigenen Positionen zu schärfen. Wer bin ich? Mit wem habe ich es da zu tun? Was kann auf uns zukommen? Was dürfen wir, was müssen wir? Stichwort parlamentarische Anfragen: Das hat am Anfang viele Institutionen verunsichert, vor allem die Art und Weise der Fragestellung. Muss das überhaupt beantwortet werden? Haben wir vielleicht Kontakte in die Verwaltung, die uns sensibilisieren könnten? Wie lassen sich Daten von Mitarbeiter*innen schützen? Bei der Lösung solcher Fragen versuchen wir, Hilfe zu leisten.

Es gibt in der Szene für zeitgenössische Musik viele Zusammenschlüsse, die meisten Mitglieder arbeiten aber weitgehend isoliert voneinander und stehen in existenzieller wirtschaftlicher Abhängigkeit von der öffentlichen Hand, die sie dementsprechend nur ungern beißen wollen. Julian, ihr habt erfolgreich Widerstand geleistet. Welche Erfahrungswerte kannst du daraus teilen?

Rieken: Wichtig ist, dass man sich Unterstützung holt. Ebenso muss man versuchen, eine breite gesellschaftliche Allianz zu schaffen und die Deutungshoheit wiederzuerlangen, indem man offensiv in die Medien geht. Das Progressive Zentrum hat im Rahmen eines großen Projekts Workshops gegeben, in denen sich Betroffene austauschen und zusammen Strategien erarbeiten konnten. Das war für uns sehr hilfreich. Es gibt sehr viel Wissen, Erfahrungswerte und Strategien, auf die man sich beziehen kann.

Simon, ihr bietet genau solche konkreten Hilfeleistungen an. Hat die Arbeit in den vergangenen Jahren zugenommen?

Brost: Schon. Ich arbeite hauptsächlich, aber nicht ausschließlich zu Kunst und Kultur, aber es lässt sich in allen gesellschaftlichen Bereichen beobachten. Deshalb macht ein Erfahrungsaustausch darüber hinaus Sinn. Die Erfahrungen und Herausforderungen sind häufig ähnlich. Viele solidarische Strukturen müssen erst noch geschaffen werden. Der Zeitpunkt dafür ist ein richtiger und guter.

Dank der genannten Correctiv-Recherche sind in den vergangenen Monaten Millionen Menschen auf die Straße gegangen. Das macht erst mal Hoffnung. Wird sich darüber aber auch nachhaltig etwas ändern?

Rieken: Ich habe die aktuellen Umfragen nicht vor mir, sehe aber den Unterschied noch nicht. Dass in Berlin, Hamburg und Leipzig viele Menschen auf die Straße gehen, war zu erwarten. Dass es aber auch regional passiert, hat mir viel Hoffnung gemacht. Gleichzeitig reicht das nicht. Es gibt ja Gründe, warum sich viele Menschen dem hingezogen fühlen. Dahinter stehen reale Sorgen und Ängste, die seit Jahren nicht angegangen wurden. In Sachsen-Anhalt etwa gibt es sehr viele Ecken, die komplett abgehängt sind. Es ist nicht so, als wären alle diese Menschen primär für die AfD. Stattdessen fühlen sie sich von anderen Parteien schon sehr lange nicht mehr abgeholt. Das müssen auch die ernst nehmen. Wir müssen es auch gesamtgesellschaftlich aushandeln.

Brost: An den Demonstrationen wurde deutlich, dass die Correctiv-Recherche für viele Menschen einen konkreten Anlass bot, um auf die Straße zu gehen. Sie machen sich bezüglich des sogenannten Rechtsrucks Sorgen und wollen das lähmende Gefühl von Passivität und Machtlosigkeit abschütteln. Doch was sind realistische Erwartungen, die man an Demonstrationen haben kann? Sicherlich nicht, dass man diejenigen zurückgewinnt, die gar nicht mehr zu erreichen sind. Wozu Demonstrationen sicherlich einen Beitrag leisten können und das vielleicht sogar schon getan haben, ist, die Gesellschaft und die Institutionen zu veranlassen, aktiver zu werden. So kann überhaupt erst wieder eine Gegenentwicklung entstehen. Diese Stimmung kann, in verschiedenen Kontexten multipliziert, etwas sehr Aktivierendes und Stärkendes haben. Jetzt gilt es, das zu verstetigen.

Julian, Stichwort Verstetigung: In den Jahren 2022 und 2023 fand das IMPULS erneut statt. Wie wurde eure Arbeit von den vorigen Erlebnissen geprägt?

Rieken: Sie haben uns ermutigt, uns ganz bewusst politischen Fragen zuzuwenden, uns also im positiven Sinne radikalisiert. Wir sind viel internationaler und zugleich fester auf lokaler Ebene vernetzt. Das spiegelt sich auch programmatisch wider. Wir hatten beispielsweise ein Symposium zur Rolle der Kunst. Welche Verantwortung hat man eigentlich als Künstler*in, als Kulturinstitutionen angesichts von Krieg und Klimakrise? Wie kann man sich engagieren, wie Veränderungen bewirken? Welche Einschränkungen gibt es, welche Möglichkeiten? Wie kann man die Kraft der Kunst nutzen, um gesellschaftlich wirksam zu werden? Es hat auch meine eigene kuratorische Praxis verändert. Sind Modelle wie das eines Festivals oder einer Intendanz noch zeitgemäß? Ließe sich das nicht stattdessen breiter, inklusiver gestalten? Wir arbeiten stärker mit Kollektiven zusammen und werden wahrscheinlich irgendwann gar kein Festival mehr sein, sondern etwas anderes. Ich bin mir noch nicht sicher, ob es in diesem Jahr eine Ausgabe geben wird oder wie sie aussehen wird. Aber es wird große Projekte geben. Mit dem Klangkunstkollektiv SONIC TOMORROW arbeiten wir mit internationalen Kollektiven zusammen und fragen, wie sich künstlerisch mit der Klimakrise umgehen lässt. Das laufende künstlerische Forschungsprojekt »Arid Futures« untersucht beispielsweise Trockengebiete sowohl als Landschaften der ökologischen Wüstenbildung und der organischen Zerstörung als auch als metaphorische Landschaften für den sozialen und kulturellen Verfall.

Simon, ist es eure Erfahrung, dass Institutionen, die angegriffen werden, so reagieren?

Brost: Es hat unserem Eindruck nach bisher nicht dazu geführt, dass sich Leute, die sich zuvor klar positioniert haben, das nicht mehr tun. Aber es hinterlässt Spuren, die man nicht zu groß werden lassen darf. Das bleibt eine Herausforderung.

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