Ukraine und Jazz

31. Mai 2022 | Uli Kempendorff

Ganna Gryniva
©Ganna Gryniva Dovile Sermokas / Collage von Grycia

Seitdem mit dem Angriffskrieg russischer Truppen auf die Ukraine am 24. Februar ein schon lange schwelender Konflikt in unserer direkten Nachbarschaft eskaliert ist, hat sich der Alltag ukrainischer Musiker*innen in Berlin drastisch verändert. Schnell wurde reagiert – schon ab der ersten Woche gab es Benefizkonzerte im Donau 115, im Zig Zag Jazzclub, in der Volksbühne, im Haus der Statistik, auf Demonstrationen und anderswo. Zu den Organisator*innen und Musiker*innen gehören die Sängerin Ganna Gryniva, der Gitarrist Igor Osypov, der Pianist Yuriy Seredin, der Gitarrist Daniil Zverkhanovsky und der Trompeter Dima Bondarev. Spenden wurden gesammelt und die Einnahmen gingen direkt an betroffene Freund*innen und Familien, an Hilfsorganisationen und Initiativen wie Ukraine-Hilfe Berlin e.V.

Die Spenden und die Möglichkeit ihrer schnellen und unbürokratischen Weiterleitung zur direkten Hilfe waren dabei oft ähnlich wertvoll wie die ideelle Unterstützung durch das zahlreich erschienene Publikum und die offenen Signale, dass die Ukraine nicht alleine steht und nicht alleingelassen wird. Die in Putins Rede vom 21. Februar inhärente Absprache einer der Ukraine eigenen beziehungsweise von Russland unabhängigen Kultur bedeutete für viele Künstler*innen eine besonders harte Provokation und legte damit auch den Fokus auf die Wechselwirkung von Kunst und Politik. Während in den vergangenen Wochen viele der Künstler*innen ihre Zeit und Ressourcen auf direkte Hilfe für Familien und Freund*innen im Land sowie der Unterstützung von Geflüchteten in Berlin konzentrierten, birgt ihre Musik noch wesentlich mehr Ebenen und Aufgaben als das bloße Sichtbarmachen. In ihr sind auch Bewahrung, Reflektion und Fortführung enthalten. 
 

Die Familie von Ganna Gryniva stammt aus dem Westen der Ukraine, sie wuchs in einem kleinen Dorf bei Kiew auf und kam als Teenagerin nach Deutschland. Hier hat sie in den letzten Jahren mit ihren eigenen Projekten und Kollaborationen von sich hören gemacht. Zu letzteren gehört auch das Projekt Heartcore for Ukraine, für das Ganna das Lied »Spivanka« arrangierte, mit Waisenkindern aus der Nähe von Lwiw einstudierte und sang. Beteiligt an dem Projekt waren auch Louis Cole, Michael League und Kurt Rosenwinkel. Das Lied lernte Ganna von Vasyl Potyak aus Kryvorivnja in den Karpathen der südwestlichen Ukraine im Rahmen einer Forschungsreise im Jahr 2013, während derer sie Lieder der ukrainischen Folklore sammelte und lernte, die zu einem wichtigen Bestandteil ihrer musikalischen Identität werden sollten.

Wie in vielen anderen Teilen der Sowjetunion gab es auch in der Ukraine schon früh Bestrebungen, regionale Traditionen und Eigenheiten durch ideologiekonformere, generische Lieder und Rituale zu ersetzen. Die Bewahrung, Bearbeitung und Aufführung dieses Liedschatzes war anfangs ein Projekt der künstlerischen Selbstbestimmung, hat in den vergangenen acht Jahren über die Veränderung der Umstände aber eine immer größere politische Bedeutung angenommen. Gryniva, in deren Quintett Musiker*innen aus fünf verschiedenen Ländern zusammenspielen, entwickelt Musik in einem entschieden kollaborativen Prozess und schafft es dabei, Tradition gewinnbringend neu zu kontextualisieren und in der Innovation zu bewahren.  

Igor Osypov kam vor zehn Jahren aus Donezk nach Berlin, um zu studieren. Osypov ist ein virtuoser und vielseitiger Gitarrist und hat sich, ob als Teil von Logan Richardson’s Blues People in den USA oder mit seinen eigenen Projekten in Berlin und Europa, schnell international einen Namen erspielt. Osypov’s »Motherland?« wartet noch auf ein offizielles Release, aber ein Ausschnitt davon, mit dem Trompeter Dima Bondarev, ist seit gut einem Jahr auf der Video-Plattform berta.berlin zu sehen. Das Projekt ist ein »musikalisches Abenteuer, Geschichte basierend auf den Ereignissen und Erinnerungen eines Menschen, der davon träumt, in die Vergangenheit zurückzukehren und nach seinem verlorenen oder gestohlenen Mutterland zu suchen, wo er nicht mehr erwünscht ist und plötzlich als Feind der Gesellschaft betrachtet wird. Es ist ein selbsterlebter Konflikt, ein Kampf gegen die Aggression in der Welt und eine Idee, der Gewalt auf persönlicher und globaler Ebene zu widerstehen, da Millionen von Menschen auf der ganzen Welt von unfairen und unverdienten Entscheidungen betroffen sind.« Osypovs Familie wurde nun zum zweiten Mal in den vergangenen zehn Jahren vertrieben. Auch hier haben die aktuellen Ereignisse die künstlerische Abstraktionsebene eingeholt.

Beide Musiker*innen stehen für die große Gestaltungskraft ukrainischer Künstler*innen in der Diaspora mit Sitz in Berlin. Inhalt und Umsetzung ihrer künstlerischen Vision sind beispielhaft für eine friedliche Zukunft – integrativ, bewahrend in der Transformation, tolerant und grenzüberschreitend. Diese Worte werden Mitte März in der Hoffnung geschrieben, dass bei Druck und Auslage dieser Ausgabe eine Lösung am Verhandlungstisch gefunden wurde und die Ukraine Freiraum gewinnen wird, einen eigenen, unabhängigen Weg in Frieden zu gehen.

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