Konstruktives Sprengen

Roundtable Ko-Kreation

15. August 2024 | Lisa Nolte

Von links nach rechts: Das Reanimation Orchestra, das Trio Dell-Lillinger-Westergaard und das Sonar Quartett
©Ian Stenhouse / Nino Halm / Zuzanna Specjal

Ob beim Eröffnungsfestival »Intersecting Encounters« oder in einzelnen Veranstaltungen: Das gemeinschaftliche Schaffen von Musik zieht sich als ein roter Faden durch den Monat der zeitgenössischen Musik. Ian Anderson vom Sonar Quartett, Christopher Dell vom Trio Dell-Lillinger-Westergaard und Elo Masing vom Reanimation Orchestra sprachen mit field notes Redakteurin Lisa Nolte über kollektive Prozesse und Aha-Erlebnisse.

Das Sonar Quartett wurde vor fast 20 Jahren als Streichquartett für zeitgenössische komponierte Musik ins Leben gerufen. In jüngerer Zeit habt ihr begonnen, als Quartett selbst gemeinsam zu komponieren. Warum?

Ian Anderson: Ich bin erst vor zwei Jahren zum Quartett gestoßen, da hatten die Musiker*innen bereits damit begonnen. Aber das war eine Sache, die mich wirklich angezogen hat an ihrer Arbeit. Ich habe sowohl Komposition als auch Interpretation studiert und war schon immer daran interessiert, dass Interpret*innen eine aktive Rolle in der Kreation spielen. Das ist uns abhandengekommen. Früher war das ein wichtiger Teil der klassischen Musik. Heute sind diese beiden Dinge aus irgendeinem Grund stark getrennt. Ich denke, es wäre unglaublich wertvoll, wenn es wieder zum Standard würde, dass Interpret*innen auch schöpferisch tätig sind. Es verbessert alles, was wir tun, selbst wenn wir zurückgehen und Beethoven spielen. Das war einer der Hauptgründe, warum ich mich dafür interessiert habe.

Hast du deine Rollen als Komponist und Interpret Schritt für Schritt einander angenähert oder waren sie für dich schon immer eine Einheit, die du in der Arbeit mit dem Sonar Quartett genauso leben kannst?

IA: Ich komponiere schon fast mein ganzes Leben lang und habe auch Komposition studiert. Aber erst mit dem Sonar Quartett habe ich angefangen, auf der Bühne zu improvisieren. Diese zwei Aspekte waren bei mir immer getrennt, obwohl ich immer auch Musik komponiert habe. Ich möchte der klassischen Musikwelt gegenüber nicht negativ sein, weil sie so viele großartige Dinge zu bieten hat. In der traditionellen klassischen Musikausbildung wird uns beigebracht, dass wir uns nicht gehen lassen und frei sein sollen. Das ist nicht so wie zum Beispiel bei Jazzmusikern. Natürlich ist der Ansatz bei ihnen auch sehr technisch und strukturiert, aber ihnen wird von Anfang an beigebracht, sich gehen zu lassen und sich selbst in die Musik einzubringen.

Das erinnert mich an diese sehr markante Aussage aus dem »Manifest« von Dell-Lillinger-Westergaard: »Unser Ziel ist es, die traditionell im Musikbetrieb unterstellte Autonomie des einzelnen Autorensubjekts konstruktiv zu sprengen.« Was meint ihr damit, Christopher?

Christopher Dell: Das bezieht sich auf die Idee, dass es ein Genie geben sollte, das den direkten Kontakt zur Vernunft und zum Wissen hat, und die Macht hat, über die Entstehung einer musikalischen Form zu herrschen, und das für gewöhnlich Komponist genannt wird. Als Komponisten-Interpreten-Trio versuchen wir, diese Regel zu hinterfragen. Wenn man beginnt, in einer Gruppe von drei Personen zu komponieren, muss man die Position des traditionellen Komponisten überdenken. In meiner Kompositionsausbildung war Gruppenkomposition niemals ein Thema. Alles war auf einen völlig individualistischen Ansatz ausgerichtet, und es war klar, dass man lernen musste, einen bestimmten Wissensraum zu schaffen, der auf eine Aktion projiziert wird, die dann vervielfältigt und skaliert wird. Beim Komponieren in der Gruppe wird dieser Machtmechanismus in Frage gestellt. Wir negieren ihn nicht, aber es interessiert uns, den Begriff der Komposition zu erweitern, indem wir mit der Art des Musikmachens experimentieren. Sobald man multiple Autorenschaft hat, erhält man eine andere Handlungshaltung.

Wie kommt man im eigentlichen Prozess aus dieser vorgegebenen Struktur heraus?

CD: Das ist eine komplexe Frage und ich versuche, in meiner Antwort so einfach wie möglich zu sein. Unsere Methode fußt darauf, zu lesen, was der Andere tut. Dieses »Loslassen«, von dem Ian spricht, bedeutet, dass man anfängt, sich auszudrücken und zu bewegen. Wenn man anfängt, sich zu bewegen, muss man in der Lage sein zu lesen, wie man sich bewegt. Denn wenn es keine Notation gibt, die bereits festgelegt hat, wie man sich bewegt, dann ist die Handlung, die man ausführt, der Träger des Wissens. Wir haben in unserem Trio verschiedene Strategien. Nur ein Beispiel: Wir spielen gemeinsam einen Takt und wiederholen ihn tausendmal, um ihn wirklich lesbar zu machen. Dann fangen wir an, diesen Takt auf viele Arten zu modulieren, die kompositorischen Strategien sehr ähneln. Wir verwenden und erweitern diese kompositorischen Techniken, um die Handlungen zu lesen und weiterzuschreiben. Danach machen wir Notationen davon und interpretieren diese Notationen in Bezug auf die kommenden Aktionen neu. Es ist immer ein riesiges strukturelles Feld, weil wir zu dritt sind. Das vervielfacht extrem. Wir versuchen, das, woran wir arbeiten, so klein wie möglich zu halten.

Ich stelle mir das vor wie eine Art Kern, von dem ihr ausgeht.

CD: Genau, man startet aus einem Kern heraus. Aber dieser Kern kommt aus dem Nebeneinanderstellen und Wiederholen von Spielen, Lesen und Darstellen.

Elo Masing: Das finde ich sehr interessant. Normalerweise beginnen wir bei einer Komposition mit etwas Geschriebenem, selbst wenn es nur ein sehr vages Konzept oder eine sehr offene Partitur oder ein Bild ist. Wir beginnen mit etwas Geschriebenem und gehen dann in den Spielzustand über. Es ist interessant, dass ihr mit dem Spielen beginnt und dann zum Schreiben übergeht. Das haben wir mit dem Reanimation Orchestra noch nicht ausprobiert. Wenn wir über kollektive Komposition sprechen, setzen wir uns normalerweise zusammen und schreiben gemeinsam etwas, das wir dann später spielen.

CD: Das machen wir auch. Aber wenn ihr in eurer Composer-Performer-Konstellation arbeitet und die Grenzen zwischen den beiden Rollen verwischen wollt, dann macht dieses Verwischen der Grenzen den großen Unterschied. Es verändert das gesamte Setting.

EM: Es weicht den Begriff der Autorenschaft auf, wie du gesagt hast, aber vielleicht weniger drastisch, weniger radikal. Wir alle sind Autor*innen, aber wir sind auch alle Interpret*innen dieser gemeinsamen Schöpfung, weil wir alle die Musik schaffen, die wir dann spielen.

IA: Wenn ihr als Gruppe komponiert, hat dann immer eine Person die Leitung oder geht das alles ganz demokratisch zu?

EM: Wir arbeiten meist mit sehr offenen Partituren. Das können Textpartituren sein, grafische Partituren oder eine Zeitnotation, bei der man eine Stoppuhr abliest und nach bestimmten Parametern interagiert. Dann ist der Rahmen sehr offen. Bei der Interpretation arbeiten wir völlig unhierarchisch. Alle Beteiligten können sich eine Botschaft oder Interpretation ausdenken, die ihnen spontan einfällt oder die sie nach einer gewissen Zeit der Arbeit an der Partitur beschließen. Wir sitzen nicht zusammen und sagen: Das ist die richtige Art der Interpretation; so machen wir das jetzt alle. Es gibt nicht eine einzelne Person, die diese Entscheidungen trifft.

Wir hatten ein paar Spielzeiten, in denen die Gruppe drei Leute aus acht oder zehn auswählte und diese drei Leute konnten drei Monate lang als Komponist*innen mit dem Ensemble zusammenarbeiten. Sie mussten ein Konzept zu einem Stück entwickeln und am Ende haben alle, auch die Komponist*innen, das Stück aufgeführt. In einer anderen Spielzeit durfte jede*r einen Monat lang Komponist*in der Gruppe sein. In diesen zehn Monaten musste diese nennen wir sie »musikalische Leitung« eine Skizze oder eine Idee zur Probe mitbringen. An der haben wir gearbeitet und sie irgendwann aufgeführt.

Zunächst haben wir uns gesagt: Wir kommen alle zusammen. Wir sind nicht alle als Komponist*innen ausgebildet, wir kommen aus unterschiedlichen Bereichen. Viele sind Instrumentalist*innen, experimentelle Musiker*innen, Improvisator*innen und haben nicht einmal so viel Kompositionserfahrung. Aber jede*r kann sich ausprobieren und die eigenen Ideen einbringen. Denn als Musiker*in hat jede*r Ideen, wie man Klang in der Zeit organisieren kann. Nachdem wir verschiedene Arbeitsformen ausprobiert hatten, haben wir entschieden: Die Interpretation eines Stücks ist ein kollektiver Akt, warum machen wir also nicht auch das Komponieren eines Stücks zu einem kollektiven Akt!

CD: Hat das funktioniert?

EM: Ja, erstaunlich gut. Anfangs dachten wir: Wie sollen wir das machen? Ein Stück komponieren in einer Gruppe von acht Leuten – vielleicht ist das ein bisschen viel. Wir haben uns also in kleinere Gruppen von zwei bis drei Leuten aufgeteilt. Dann haben wir uns eine bestimmte Zeitspanne gegeben. Ich weiß nicht mehr genau, wie lang. Das war in der Corona-Zeit, als wir das FEB-II-Stipendium des Musikfonds hatten, also hatten wir ein paar Monate, um uns darauf zu konzentrieren. In dieser Zeit konnte jede Gruppe für sich den richtigen Arbeitsmodus finden. Zu einem vereinbarten Zeitpunkt kamen wir dann alle wieder zusammen und brachten die Stücke mit, die wir komponiert hatten. Ich glaube, es war für alle eine sehr schöne Erfahrung.

Die Gruppen haben wir nach dem Zufallsprinzip zusammengestellt. Wir haben einfach Namen in einen Hut geworfen und gezogen. Niemand konnte bestimmen, wer zusammenarbeitet. Alle mussten bereit sein, mit allen zusammenzuarbeiten. Wir dachten, das könnte zu Konflikten führen. Vielleicht würde es zwei oder drei Leute in einer Gruppe geben, die sich überhaupt nicht verstehen oder unterschiedliche Herangehensweisen an den Prozess haben, oder jemand fühlt sich ausgeschlossen oder nicht genug gehört. Alle Möglichkeiten lagen auf dem Tisch. Auch dass wir zurückkommen und sagen: Dieses Experiment ist gescheitert; wir konnten kein Stück schreiben. Aber jeder kam mit wirklich interessanten, sehr brauchbaren Stücken zurück, die wir am Ende des Prozesses aufgenommen haben.

Habt ihr immer in derselben Gruppe von Musiker*innen gearbeitet?

EM: In diesem Projekt schon. Bei anderen Projekten haben wir auch mit Gastmusiker*innen gearbeitet.

Verändert es den Prozess, wenn ihr mit Gastmusiker*innen zusammenarbeitet?

EM: Definitiv. Wir haben mit verschiedenen Formaten gearbeitet, bei denen das Hinzuziehen eines Gastes an sich schon den Prozess vordefiniert hat, weil die Person eine ganz eigene Stimme oder ein ganz spezielles Instrument oder eine besondere Spielweise mitgebracht hat. Das bestimmt bereits die Aufführungs- und Arbeitssituation. Deshalb haben wir uns für solche Fälle dagegen entschieden, zusätzlich Partituren zu verwenden. Mit Gästen arbeiten wir immer als improvisierende Gruppe oder mit Instantkomposition. Aber das funktioniert nur, weil wir in diesem Rahmen  von Improvisation und offener Partitur immer ziemlich rigoros an den Konzepten und Ideen festgehalten haben. Wir haben unser Zuhören und unsere Interaktion so diszipliniert, dass wir als große Gruppe von Leuten zusammenkommen können, ohne bloß eine undifferenzierte Masse von Lärm zu erzeugen. Wir beherrschen mittlerweile diesen Instantkompositionsprozess in der großen Gruppe.

CD: In solch einem Prozess spielen die Persönlichkeiten aller einzelnen Musiker*innen eine immense Rolle. Sie prägen das gesamte Setting. Sobald man zu diesem Ko-Kreationsprozess übergeht, ist alles Subjektive wirklich entscheidend für den Prozess, weil es die Entscheidung über alles, was als Komposition geschehen wird, teilhat. Ein anderer Aspekt ist, dass es in der Gruppe eine antrainierte Art und Weise gibt, Dinge zu tun. Wenn man als Ensemble für Neue Musik eine Komposition einstudiert und immer wieder gemeinsam probt, um in der Lage zu sein, zum Beispiel Neue Komplexität oder Earle Brown zu spielen, ist man so sehr darauf trainiert, das Geschriebene zu spielen, dass man ein riesiges Repertoire des individuellen und gemeinsamen »Tuns« hat. Das gilt auch für Ko-Komposition oder Ko-Kreation. Wenn Elos Ensemble zusammenarbeitet, ist es haargenau dasselbe wie bei einem Ensemble für Neue Musik, das Kompositionen auf traditionelle Weise spielt. Sobald du eine andere Person integrierst, muss diese Person diese Art des »Tuns« lernen.

Ich habe gerade darüber nachgedacht, weil ich weiß, dass das Ensemble Modern oder das Klangforum Wien einen bestimmten Pool von Leuten haben, die für andere einspringen und denen sie vertrauen. Sie wissen, dass die Zusammenarbeit mit diesen Musiker*innen funktionieren wird. Für das Ensemble Modern ist die Internationale Ensemble Modern Akademie wirklich eine Maschine. Sie versuchen, Musiker*innen zu schaffen, die sich einfügen können. Es ist ein wichtiger Teil der Ausbildung, dass diese Musiker*innen auch Assistent*innen beim Üben und in den Proben des Ensemble Modern sind. Alles ist darauf ausgerichtet, neue Musiker*innen auszubilden, die dem Ensemble Modern beitreten können. Ich denke, mit der Ko-Komposition ist es dasselbe: Du trainierst die Leute, die deinem Ensemble beitreten sollen, in deiner Art des »Tuns«, denn jede Gruppe hat eine.

EM: Ich würde es auch aus dieser Perspektive sehen: Jede Person, die neu hinzukommt, verändert das Ensemble in gewisser Weise.

CD: Absolut.

EM: Wenn wir Gäste einladen, ist es ist nicht so, dass wir eine Person wollen würden, die eh schon reinpasst, oder dass wir jemanden darauf konditionieren wollen, in unsere Arbeitsweise zu passen. Die Arbeit mit Gastkünstler*innen war für uns sehr interessant. In der letzten Saison haben wir eine Reihe von Konzerten mit Vokalist*innen veranstaltet, die jeweils mit dem gesamten Reanimation Orchestra aufgetreten sind. Eine unserer Hauptaufgaben in dem Projekt bestand darin, diese neue Stimme und die Art und Weise, wie diese neue Person Musik macht, zu unterstützen. Die Stärke des Projekts hat darin gelegen, dass wir als Reanimation Orchestra bereits eine lange Erfahrung in der Zusammenarbeit haben. Wir haben unsere bewährten Methoden, Dinge anzugehen. Weil wir uns damit nicht mehr so abmühen müssen, sind wir ziemlich frei, das einzubeziehen, was neue Künstler*innen mitbringen. Wir können ihnen auch dabei helfen, das Besondere ihrer musikalischen Sprache herauszuarbeiten und sie dabei unterstützen, in gewisser Weise Solist*innen zu sein.

CD: Aber das ist natürlich eine ganz andere Ausgangslage. Es besteht ein großer Unterschied darin, einen Kontrast zu kuratieren, um einen anderen Ansatz oder ein anderes Klangniveau zu erreichen, und der Routinearbeit. Musiker*innen einzubeziehen, die einen Gegensatz bilden, führt in eine stärkere Transformation. Die Routinearbeit ist dagegen ziemlich mühsam und es dauert sehr, sehr lange, bis sie wirklich funktioniert. Man arbeitet dabei genauso hart wie jedes andere Ensemble, das diese komplexe Musik einstudieren muss.

IA: Christopher, du sprichst von diesen Neue-Musik-Ensembles, die sich der Neuen Komplexität widmen. Ich finde das unglaublich. Ich habe nie die Geduld gehabt, mich hinzusetzen und eine so komplexe Partitur für Bratsche solo zu erlernen. Einer der Gründe, aus denen ich mich für Improvisation interessiere, hat vielleicht mit Faulheit zu tun, aber ich hatte auch einen Moment, der mir plötzlich die Augen öffnete für die Möglichkeiten, die mit ihr einhergehen. Ich war bei einem Konzert mit der Saxofonistin Lotte Anker in Norwegen. Ich hatte noch nie von ihr gehört. Sie spielten diese ganze komplexe Musik, das war unglaublich, es hat mich umgehauen! Danach ging ich zu ihr und bat darum, die Noten sehen zu dürfen. Sie zeigte mir die Partitur, und die war einfach ein weißes Blatt. Es war im Grunde alles improvisiert. Natürlich hatten sie sehr sorgfältig gearbeitet und Ideen und Timing und alles ausgearbeitet. Aber die Partitur war im Grunde leer, nur ein paar Textanweisungen. Das war das erste Mal, dass mir bewusst wurde, dass es so etwas überhaupt gibt.

CD: Wann war das?

IA: Das ist nicht so lange her, vielleicht zehn Jahre. Davor hatte ich mit komplexer zeitgenössischer Musik zu tun, und die hat natürlich ihren eigenen Wert. Aber was mir an Lottes Ansatz gefiel, war, dass er den Interpret*innen die Kontrolle überlässt und ihnen erlaubt, ihre eigene Persönlichkeit einzubringen. Die Vorstellung, dass der Komponist jedes Instrument perfekt kennt, ist sehr verbreitet. Als Komponist kann ich recherchieren, aber die Interpret*innen kennen ihr Instrument tausendmal besser, als ich es je kennen werde. Warum sollte ich ihnen also nicht die Freiheit geben, sich auszudrücken und die emotionale und künstlerische Bandbreite ihres Instruments zu maximieren. Was du gerade gesagt hast, hat mich daran erinnert, dass meine Entwicklung halb aus Faulheit war, aber halb auch aus der Neugier darauf, welche Möglichkeiten sich ergeben, wenn man Menschen die Kontrolle gibt. Lotte ist sehr strukturiert, sie plant alles, aber sie gibt den Leuten Raum. Auch ich als Komponist gebe den Interpret*innen jetzt mehr Raum und Möglichkeiten als vor diesem Abend.

Hat die Arbeit des Sonar Quartetts an kollektiven Kompositionen die Art und Weise versändert, wie ihr an Kompositionen anderer Komponist*innen herangeht, die weniger offen mit den Möglichkeiten der Interpret*innen umgehen?

IA: Wenn man unsere Interpretationen Purist*innen vorspielen würde, wären die vielleicht der Meinung, dass wir uns zu viele Freiheiten nehmen mit der Musik. Aber es ist immer ein Balanceakt. Wenn man Musik spielt, muss man immer auch ihren Kontext berücksichtigen. Man sollte die Tradition respektieren, aber auch eigene Ideen einbringen. Ich kann hier nur für mich selbst sprechen, aber diese Arbeit hat mich auf jeden Fall fantasievoller gemacht in meiner Herangehensweise an Musik im Allgemeinen.

Elo, ich habe eine letzte Frage an dich, an das Reanimation Orchestra: Was soll reanimiert werden?

EM: Die Idee, das Reanimation Orchestra zu gründen, war nicht meine und auch der Name nicht. Den hat unser Mitmusiker Ame Zek erfunden. Was soll reanimiert werden? Ich glaube, der Name war eine Reaktion auf ein bestimmtes soziales, politisches und künstlerisches Klima um die Jahre 2016/2017 herum. Der Widerstand musste reanimiert werden. Bei dem Namen »Orchester«, unter dem sich diese antihierarchische Gruppe zusammenfindet, handelt es sich in gewisser Weise um eine ironische Verwendung des Wortes. Es ist offensichtlich, dass das Orchester historisch gesehen ein extrem hierarchisches Kollektiv ist. Es hat immer nach dem Muster des 19. Jahrhunderts funktioniert: Es gibt Gott, dann gibt es den Komponisten, der den Dirigenten anweist, und dann gibt es alle anderen. »Reanimate« verstehe ich als einen Begriff des performativen Widerstands gegen den Status quo, als eine Öffnung von im Grunde unendlichen Möglichkeiten in dieser Gruppenarbeit. Nichts ist je selbstverständlich, denn es gibt zu viele persönliche Einflüsse und Entscheidungen, die einbezogen werden müssen. So kann man nie ganz sicher sein, was das Ergebnis sein wird. Aber irgendwie sind wir alle gemeinsam auf dieser Reise.

CD: Was mir an diesem Gedanken der Wiederbelebung wirklich gefällt, ist, dass er auch die Frage aufwirft, woher die »anima« kommt oder wie die Seele beeinflusst wird. Woher kommt die Handlung, die man ausführt? Woher kommt der Vektor? Das ist nur eine Frage, die aber für mich stark mit dem Namen unseres Ensembles zusammenhängt.

Über die Teilnehmer*innen der Roundtable und ihre Ensembles

Ian Anderson ist Bratschist beim Sonar Quartett. Seit einigen Jahren widmet sich das Ensemble der Erfoschung von Improvisationsmöglichkeiten als zeitgenössisches klassisches Streichquartett und der Rolle des Experimentierens in der klassischen Musik. Dabei wollen seine Musiker*innen zugleich schöpferisch tätig sein und als Interpret*innen im traditionellen Sinne.

Christopher Dell ist Komponist, Musiker und Theoretiker im Bereich Städtebau. Einer seiner Schwerpunkte ist die Arbeit mit dem Composer-Performer-Trio Dell-Lillinger-Westergaard. Gemeinsam erforscht das Trio die Verbindung der verschiedenen Aspekte von Performance und Komposition.

Elo Masing ist Komponistin, improvisierende Geigerin und Klangkünstlerin. Sie ist Mitglied des Reanimation Orchestra, einer Gruppe von acht Musiker*innen mit unterschiedlichen Hintergründen – von Komponist*innen über Interpret*innen Neuer Musik bis hin zu Improvisator*innen.Gemeinsam versuchen sie, die Rollen zwischen den verschiedenen Disziplinen und Arten, Musiker*innen zu sein, zu verschmelzen. Eines ihrer jüngsten Projekte war dem kollektiven Komponieren von Stücken in kleinen Gruppen gewidmet.

  • Interview
  • field notes 38

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field notes Magazin #38: September/Oktober 2024

In Ausgabe #38 erfahrt ihr alles über den Monat der zeitgenössischen Musik und die Schwerpunkte seines Programms. Außerdem lest ihr einen großen Roundtable zum Thema Ko-Kreation und gemeinschaftliches Arbeiten.