Matthias Mohr (Radialsystem): »Wir müssen uns der Frage stellen, warum wir seit Jahrhunderten institutionelle Strukturen fortschreiben«

Freie Szene – Freier Fall?

1. September 2021 | Matthias Mohr

Porträtaufnahme Matthias Mohr
©Killa Schütze

Künstler*innen und Kulturstätten sind beide von der Krise betroffen, die Beziehung zwischen ihnen wird erschwert. Matthias Mohr vom Radialsystem sieht in seinem Statement für #FreieSzeneFreierFall aber auch den Anlass für eine Selbstbefragung szeneinterner Strukturen gegeben.

Trotz der wirtschaftlichen Herausforderungen, die auch wir als teilgeförderte Institution vor Augen haben, befinden wir uns verglichen mit vielen anderen in einer privilegierten Situation. Insbesondere gegenüber den freien Künstler*innen, Techniker*innen und den hinter den Kulissen am Kulturbetrieb beteiligten Gewerken, die nicht fest an einem Opernhaus, einem Theater oder einer öffentlich geförderten Tanzkompanie verortet sind und sich mit Beginn der Pandemie unmittelbar in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sahen.

Mit Blick auf Berlin sind die kurz und mittelfristigen Fördermaßnahmen zu begrüßen, die einigen professionell freischaffenden Künstler*innen für den Zeitraum eines Jahres plus minus sechs Monate – je nach Förderprogramm – ein Auskommen jenseits von Hartz IV sichern. Gleichzeitig existieren diese Maßnahmen im Zeichen der Ausnahmesituation, in der wir uns derzeit befinden und drohen daher auch mit ihr wieder zu verschwinden. Ironischerweise werden freie Künstler*innen damit zum ersten Mal für einen elementaren Teil ihrer Arbeit entlohnt: für die künstlerische Recherche und Konzeption, für das Schreiben von Förderanträgen, für die anschließende Abrechnung eines Projekts, für Management, Distribution und Selbstvermarktung und schließlich für das tägliche Üben ihres Instruments oder das Trainieren ihres Körpers, als Grundvoraussetzung für ihre Praxis. Tätigkeiten, denen in der projektorientierten Förderstruktur Berlins bis jetzt kaum Rechnung getragen wird.

Die Realität von freien Künstler*innen ist von einem stetigen Wettkampf um die geringen Fördertöpfe geprägt, deren Erhalt letztlich darüber entscheidet, ob im nächsten Jahr weitergearbeitet werden kann. Selbst im unwahrscheinlichen Fall einer sich ununterbrochen fortsetzenden Projektförderung wartet zwischen den Projekten das finanzielle Loch. Mit den psychologischen Konsequenzen dieses Drucks und der ständigen Angst, die berufliche Existenz mit dem nächsten nicht bewilligten Antrag zu verlieren, gehen freie Künstler*innen tagtäglich um. Durch die Pandemie potenziert sich diese Angst. Das Thema »psychische Gesundheit« ist daher besonders in den Freien Szenen sehr präsent und wird noch stärker in den Fokus rücken.

Dabei müsste das Rad nicht neu erfunden werden. Es gibt unterschiedliche Modelle in Belgien, Frankreich oder Norwegen, die der langfristigen Existenzsicherung von Künstler*innen begegnen und so ihrer komplexen Arbeitsleistung Rechnung tragen, statt sie auf die Grundsicherung zu verweisen. Als interdisziplinärer Ort beobachten wir, dass auch in Berlin von unterschiedliche Szenen hierfür Lösungsvorschläge entwickelt werden. Im Tanz beispielsweise wurde bereits vor der Pandemie mit der Tanzpraxis ein Pilotstipendienprogramm auf den Weg gebracht, das über einen Zeitraum von bis zu 18 Monaten die künstlerische Arbeit und Entwicklung unabhängig von einem spezifischen Projekt absichert. Ein Beispiel für ein Gegengewicht zur bestehenden Förderstruktur, die in ihren Vorteilen zwar erhalten bleiben muss, gleichzeitig aber einer dringenden Korrektur bedarf.

Und nicht zuletzt müssen auch die Institutionen der Freien Szene in ihrer Unabhängigkeit gestärkt werden, damit sie in Krisenzeiten als Orte der Resilienz und als demokratische Korrektive agieren können. Der Großteil der Orte ist – wie auch das Radialsystem – nicht mit eigenen Programmmitteln ausgestattet und kann künstlerische Formate ausschließlich über zusätzliche Drittmittel realisieren. Langfristige Planung einerseits und kurzfristiger Handlungsfähigkeit andererseits sind auf diese Weise so gut wie unmöglich. Darüber hinaus können Künstler*innen, die in mehreren Förderrunden nicht bedacht wurden, von den Häusern nicht aufgefangen werden. Eine kontinuierliche Beziehung zwischen Künstler*innen und Institutionen wird damit erheblich erschwert.

In Bezug auf eine mögliche Wiedereröffnung wird derzeit ein besonderer Fokus auf die Lüftungssituation der Orte geworfen. Was unter Ansteckungsaspekten logisch erscheint, offenbart gleichzeitig einen infrastrukturellen Missstand innerhalb der Freien Szene. Darauf müssen wir gemeinsam mit der Politik kurzfristige Antworten finden, wenn wir nicht auf unabsehbare Zeit einer gesamten Szene die Arbeitsgrundlage entziehen wollen. Die solidarischen Angebote staatlich geförderter Häuser, Akteur*innen der freien Szene Räume zu öffnen, helfen, sind aber angesichts des allgemeinen Premierenstaus auf allen Seiten in keinem Fall ausreichend und führen letztlich auch nicht zu einer Stärkung der prekären Strukturen der freien Szene.

Als Ankerinstitution wollen wir unsere Verantwortung ernst nehmen, unsere Räume den Künstler*innen und Ensembles, so lange es unter den gegebenen Hygieneregeln möglich ist, zur Verfügung zu stellen. Unser künstlerischer Betrieb läuft also auch während des derzeitigen Lockdowns weiter. Viele Künstler*innen sind darauf angewiesen ihre Projekte umzusetzen, wenn sie ihre Förderung nicht verlieren wollen. Der Menge der auf diese Weise entstehenden digitalen Formate steht ein weiteres strukturelles Defizit – in diesem Fall der digitalen Infrastruktur – gegenüber. Es bleibt derzeit mehr oder weniger dem Zufall überlassen, ob das Publikum über digitale Veranstaltungen stolpert. Die Zugänge werden durch die Newsletter, Social Media Kanäle und Webpräsenzen der jeweiligen Institution kommuniziert. Es findet darüber hinaus aber keine professionelle und gleichzeitig nicht gewinnorientierte Bündelung von Livestreams aller (Berliner) Kulturinstitutionen statt. Damit wird der Zugang auf das bereits bestehendes Publikum der einzelnen Institutionen beschränkt, was unter Aspekten der Teilhabe fatal erscheint. 

Auf der Basis von Residenzprogrammen und Fellowships stärken wir einen wichtigen Bereich, der jenseits der öffentlichen Bühne stattfindet. In unserem Selbstverständnis muss das Radialsystem gerade jetzt und darüber hinaus sowohl Präsentations- als auch Entwicklungsort sein. Gemeinsam mit Künstler*innen reflektieren wir in unterschiedlichen Formaten unsere eigene Praxis und treten in den Austausch mit neuen Perspektiven und Erfahrungshorizonten. Wir sind uns darüber bewusst, dass mit der Behauptung der Relevanz eine Selbstbefragung einhergehen muss. Die Zukunftsfähigkeit kultureller Institutionen und bestimmter Genres – etwa der Klassischen Musik – wird nicht durch Vermittlungsprogramme und spannende Konzertformate entschieden, sondern durch die Befragung dessen, wer Begriffe wie »klassisch«, »zeitgenössisch« oder »neu« für sich beansprucht, wer durch sie repräsentiert und wer von ihnen ausgeschlossen wird. Wir müssen uns der Frage stellen, warum wir uns seit Jahrhunderten auf einen Kanon beziehen und institutionelle Strukturen fortschreiben, die im Zeichen des systematischen Ausschlusses, der Marginalisierung und Diskriminierung entstanden sind. Die Zukunft einer institutionalisierten Kunstmusik bedeutet ihre Gegenwart und ihre Vergangenheit jenseits einer westlichen, vorwiegend weißen und männlichen Deutungshoheit abzubilden. Nur dann kann sie relevant sein.

– Matthias Mohr, Künstlerischer Leiter des Radialsystem

 

Noch nicht alles gesagt? Bestimmt nicht. Deshalb freuen wir uns auf weitere Positionen aus der Freien Szene und darüber hinaus. Unseren Call for Statements mit einigen Leitfragen findet ihr hier.

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