Wir alle haben ein Interesse daran, HerStory zu erzählen

Fidan Aghayeva-Edler im Interview

1. August 2024 | Lisa Nolte

Mareike Hein und Fidan Aghayeva-Edler, Foto Lea Hopp
©Lea Hopp

Die Pianistin Fidan Aghayeva-Edler bewegt sich zwischen zeitgenössischer Musik und Improvisation. Ein besonderes Augenmerk ihrer Arbeit liegt auf der Entdeckung vergessener und überhörter Komponist*innen. Dabei erfindet sie immer wieder Langzeitformate, die einem bestimmten Thema ausführlichen Raum geben. Am 31. August bringt Aghayeva-Edler in der Produktion »Komponistinnen – 24 Stunden Piano-Marathon«, die in Zusammenarbeit mit der Schauspielerin Mareike Hein und der Regisseurin Teresa Reiber entsteht, Werke von über 100 Komponistinnen in der St. Elisabeth-Kirche zur Aufführung. Im Vorfeld hat sie field notes Redakteurin Lisa Nolte von ihrer Motivation für das Projekt erzählt und davon, wie sie sich auf die Spurensuche fast vergessener Werke begibt.

Ich habe gesehen, dass du Marathon läufst. Besteht da ein Zusammenhang zu den Formaten, in denen du deine Arbeit präsentierst?

Das stimmt, ich bin vor kurzem einen Halbmarathon gelaufen, wobei ich solche Ausdauerexperimente bis jetzt nur im Kunstbereich gemacht habe. Größere Bögen zu spannen – mental, aber auch körperlich – interessiert mich schon seit dem Anfang meines Musikstudiums. Damals habe ich entdeckt, dass ich sehr gerne ganze Zyklen spiele oder monografische Konzerte, nicht nur ausgewählte Werke. Das Gesamtwerk von Kara Karayev, einem aserbaidschanischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, war zum Beispiel mein Bachelor-Abschlusskonzert. Ich brauche so eine größere Motivation, ein finanziell nicht angebundenes Herzensprojekt, ein größeres Ziel vor mir, etwas für meine kleine Ewigkeit.

So ähnlich war es auch, als ich mir im Dezember 2023 die Mammutaufgabe vorgenommen habe, eine Playlist mit allen aufgenommenen Solo-Klavierwerken von Komponistinnen herzustellen. Dieses Kompendium wurde zur Grundlage eines weiteren Riesenprojekts: #365daysofperformance. Dafür studiere ich seit dem 1. Januar jeden Tag ein für mich neues Stück ein und führe es in einem Facebook-Livestream auf. Dabei hat sich sehr schnell herauskristallisiert, dass ich nur Werke von Komponistinnen spielen möchte. Ich spiele seit Jahrzehnten Musik von Komponistinnen, habe auch einiges selbst aufgenommen. Viele lebende Komponistinnen kenne ich persönlich. Über manche habe ich gründliche Recherchen gemacht. Also hatte ich schon einen soliden Hintergrund. Und dann ist es trotzdem nur ein Tropfen im Ozean. Als ich diese Playlist hergestellt habe, habe ich mich gewundert, wie viele tolle Stücke und Komponistinnen man einfach nicht kennt. Daraus entstand die Idee des Klaviermarathons.

Wie gehst du bei der Recherche für diese Projekte vor?

Meine Recherche läuft tatsächlich genauso ab, wie bei jeder anderen Musik. Ich suche und höre die existierenden Aufnahmen, suche Informationen zu den Komponistinnen online, bestelle die Noten und studiere sie ein. Es gibt auch einiges in den öffentlichen Bibliotheken Berlins. Bei den lebenden Komponistinnen ist es teilweise einfacher: Ich schreibe sie über soziale Netzwerke oder per E-Mail an, und frage nach den Partituren. Die meisten haben heutzutage eine Online-Präsenz; sie freuen sich über mein Interesse und sind sehr offen für den Austausch bzw. eine Zusammenarbeit.

In der Produktion »Komponistinnen – 24 Stunden Piano-Marathon« werden ausschließlich Werke von Komponistinnen präsentiert. Warum?

Für mich hat ein Klaviermarathon in doppelter Hinsicht eine symbolische Relevanz. Zum einen ist das Klavier nach wie vor für viele Komponistinnen »the last resort«. Es ist ein Instrument, das das ganze Orchester ersetzen und große Bögen spannen kann, obwohl es nur ein einziges Instrument ist. Historisch gesehen war der Zugang zu einem Symphonieorchester für Komponistinnen schwer und in der Folge haben nur wenige große symphonische Werke komponiert, sodass Komponistinnen heutzutage entsprechend selten von großen Orchestern aufgeführt werden. Zum anderen verweist ein Marathon symbolisch auf die Ausdauer, die Komponistinnen über die Jahrhunderte an den Tag legten. Dieser Marathon ist eine Wertschätzung für alle Komponistinnen, die trotz Herausforderungen und Enttäuschungen durchhielten, weiterkomponierten und es bis heute tun. Im klassischen Bereich sind Komponistinnen immer noch unterrepräsentiert, obwohl die Qualität ihrer Werke außer Frage steht. Auch in der zeitgenössischen Musik ist die Kanonbildung überwiegend männlich. Dem wollen wir etwas entgegensetzen.

Wie hast du die Komponistinnen ausgewählt, an die neue Aufträge ergangen sind?

Für den Klaviermarathon habe ich 24 Uraufführungen ausgesucht. Teilweise haben sich die Komponistinnen bei mir direkt gemeldet, als ich einen Open Call für Solo-Klavierkompositionen gepostet habe. Einige Partituren lagen schon längere Zeit bei mir und warteten auf den passenden Moment. Eine Uraufführung zu spielen, ist eine große Ehre für mich und ich gehe sorgfältig damit um, damit der Kontext gut passt und die Komposition die angemessene Aufmerksamkeit erhält.

Der Marathon ist nach Themen sortiert. Es gibt über 20 Szenen, die je einem bestimmten Thema gewidmet sind. Wir wollten eine Vielfalt von Stilrichtungen, Formen und Themen zeigen, die ganze Pluralität der Ideen und Anlässe. Auch die Uraufführungen sprechen diese Themen an. Es gibt politische Themen wie Widerstand, Herkunft und Dekolonisierung; kulturelle Themen wie Sprache und die Rolle der Frau in der Gesellschaft; meditative Stücke; Tanzstücke; Miniaturen; Stücke aus der Quarantäne und minimalistische Werke; Werke für sprechende Pianistin und für präpariertes Klavier.

Liegen dir von den Werken und Komponistinnen, die am 31. August zu hören sein werden, einige besonders am Herzen?

Vor einigen Jahren habe ich die Stücke von Verdina Shlonsky entdeckt. Wenn ich mich nicht irre, liegt mit meinem Album »Verbotene Klänge« von 2019, das ihren Zyklus »Pages From the Diary« enthält, die einzige Einspielung ihrer Werke vor. Sie hatte eine faszinierende Biografie: Geboren in der heutigen Ukraine – damals Russisches Reich –, ist sie mit ihrer Familie nach Palästina umgezogen. Mit nur 18 Jahren kam sie allein nach Berlin, um Klavier zu studieren bei Egon Petri und Arthur Schnabel. Danach ging sie nach Paris, um bei Nadia Boulanger Komposition zu studieren, und hatte auch Unterricht bei Max Deutsch, Edgar Varèse und Hanns Eisler. Sie gewann Kompositionswettbewerbe, hat mit den berühmtesten Musikern und Dirigenten korrespondiert, darunter Igor Stravinsky und Pierre Boulez. Leider hatte sie wenig Glück im professionellen Leben. Anfang der 1940er-Jahre musste sie fliehen, erst nach London, wo sie als Näherin und Café-Pianistin gearbeitet hat, und dann nach Palästina. Dort hat sie aber keine richtige Anerkennung erhalten. Als Frau, die viel zu moderne und progressive Musik komponiert hat, hatte sie einfach keine Chance, und so ist sie in Vergessenheit geraten. Man spielt ihre Werke heutzutage kaum noch. Eine sehr mutige Frau, die trotz der Umstände immer weiter gemacht hat. In ihrem Nachlass sind sinfonische Werke, Kammer- und Klaviermusik, außerdem Musik für das Theater und Lieder auf Gedichte ihres Bruders enthalten.


Eine andere Komponistin, die ich erst während meiner Challenge #365daysofperformance entdeckt habe, ist Hannah Kendall, eine Zeitgenossin mit karibisch-guyanischen Wurzeln, sozial engagiert, sehr sympathisch. Ihre Musik ist komplex, aber auch sehr menschlich, viele sozialpolitische Themen werden angesprochen. Von ihr spiele ich den Zyklus »On the Chequer’d Field Array’d«.

Eine weitere Zeitgenossin ist Linda Catlin Smith. Ihre Arbeit ist geprägt von einer Mehrdeutigkeit von Harmonie und Erzählweise und von ihrer Wertschätzung für die Werke von Schriftsteller*innen und Maler*innen wie Marguerite Duras, Cormac McCarthy, Cy Twombly, Giorgio Morandi, Mark Rothko, Agnes Martin und Joseph Cornell. Von Smith erklingen gleich zwei große Werke während des Marathons: »Thought and Desire« und »Nocturnes and Chorales«.

Das Format »Komponistinnen – 24 Stunden Piano-Marathon« ist im Austausch mit der Regisseurin Teresa Reiber und der Schauspielerin Mareike Hein entstanden. Wie kam es zu eurer Zusammenarbeit?

Ursprünglich wollten wir ein Konzert entwickeln, so eine Art Repertoirepflege. Aber dann ging mein lang gehegter Wunsch in Erfüllung, eine Art Durational Performance zu machen, wie man sie aus der performativen Kunst kennt.

Wir alle haben ein Interesse daran, HerStory zu erzählen und unterschiedliche Recherchen zu Komponistinnen in unsere Arbeit zu integrieren. Es ist ein Interesse an der Verbindung von Recherche und Diskurs, also Stücke aufzuführen und gleichzeitig etwas über Arbeitsbedingungen von Komponistinnen und das Überwinden von Widerständen als Künstlerin zu erzählen.

Ausgangspunkt unseres Konzeptes war Virginia Woolfs Essay »A Room of One’s Own«, in dem Woolfs darlegt, dass eine Frau ein eigenes Zimmer und ein moderates monatliches Einkommen braucht, um künstlerisch erfolgreich zu sein. Wir kreieren diesen Raum für 24 Stunden, um den Komponistinnen Gehör zu verschaffen, aber auch um einen Raum zu haben, in dem verhandelt werden kann, was es für eine Frau heißt (heute wie vor 100 Jahren) künstlerisch-kreativ tätig zu werden. Dazu zitieren wir Texte von Frauen, die sich in der Kunst eine Stimme verschafft haben oder selbst über Kampf, Freude und Inspiration im künstlerischen Schaffen aller Sparten berichten, nicht nur in der Musik.

Mareike zeichnet außerdem live und sie reagiert performativ auf die Klavierwerke und Themen, die in den Werken angesprochen werden, inspiriert von Marina Abramović und anderen Performancekünstler*innen. Es wird bewegte Pausen auch fürs Publikum geben, Reflexionen über Meditation, Schlaf, Erschöpfung, die Nacht. Wenn es überfordernd wird, kann man das Format natürlich auch als ein »normales« Konzert betrachten, zum Beispiel nur zwei Stunden zuhören und dann schauen, ob man länger bleiben möchte. Man kann jederzeit rein und raus.

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  • Neue Musik / Komponierte Musik

Komponistinnen

24 Stunden Piano-Marathon

10:00 Uhr | St. Elisabeth Kirche

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