Im Chor der Klänge und Strukturen

Bericht zur Ausstellung und Performance »Beben – Choir Practice«

23 September, 2024 | Celeste Dittberner

Installation mit Tonmasken auf Stativen in der Ausstellung »Beben – Choir Practice«
©Celeste Dittberner

Die Performance »Choir Practice« untersucht im Dialog mit der Ausstellung »Beben« im Axel Obiger die Funktion des Chors von der Antike bis heute. Eine Gesichte von Gemeinschaft und Spaltung.

Durch das große Glasfenster des hellbeleuchteten Ausstellungsraums fällt der Blick zuerst auf die auf Kamerastativen platzierten Gegenstände, die menschlichen Köpfen ähneln. Anschließend wandert er zu den überdimensionalen Metallkonstruktionen, die sich an den Wänden befinden und endet schließlich bei den lampenartigen Megaphonen, die überall im Raum verteilt von der Decke hängen.

Wir befinden uns vor der Ausstellung »Beben« im Axel Obiger in der Brunnenstraße in Berlin-Mitte. Ein paar Besucher*innen stehen noch vor dem Eingang, andere haben sich bereits einen Platz auf einem der aufgestellten Klappstühle in der Galerie gesucht. Hier im Axel Obiger werden derzeit Kunst und Klang in der Ausstellung »Beben« von Harriet Groß und Stefan Roigk zu einem vielstimmigen Dialog verwebt – ganz im Sinne eines Chors, der durch verschiedene Stimmen eine Einheit formt, aber gleichzeitig auch Spannungen erzeugt. Die Werke der beiden Künstler*innen thematisieren genau diese Wechselwirkung: Wie ein Chor aus verschiedenen Stimmen besteht, die harmonieren oder dissonant zueinanderstehen.

Es ist Donnerstag, der 12. September 2024, 18 Uhr. Roigk und Groß haben heute Abend zwei weitere Künstlerinnen zu einem Dialog eingeladen: Anne Brannys und Edith Kollath. Kollath präsentiert vor etwa 15 Personen ihre gemeinsam entwickelte Performance »Choir Practice«. Es werden Umschläge im Publikum herumgereicht, die jeweils einen Teil des Vortrags beinhalten: Das Publikum soll entscheiden, in welcher Reihenfolge die Künstlerin ihren Vortrag hält.

Dieser thematisiert die Rolle des antiken Chors als vielstimmigen sozialen Erinnerer, der in der Gegenwart als Kollektiv auftritt. Die Performance und das anschließende Publikumsgespräch untersuchen, wie der Chor, der traditionell für Harmonie und Einheit steht, in modernen Kontexten wie Demonstrationen oder Protesten zum Symbol der Spaltung werden kann. Der Chor ruft Gemeinschaft hervor, doch er kann auch zu einem Instrument der Trennung werden. Dies zeigt sich in der heutigen Zeit besonders stark in polarisierten Gesellschaften, wo sich Gruppen gegenüberstehen, die ihre Meinungen lautstark kundtun – oft ohne auf die andere Seite zu hören.

Wir erfahren, dass Stefan Roigks Werke eine vielschichtige Erkundung von Klängen des Alltags sind, da er in seiner Arbeit einfache Gegenstände wie Strohhalme und Fruchtzwerge-Becher nutzt, um seine komplexen Klanglandschaften zu erschaffen. Während des Vortrages wird seine Komposition nur ein einziges Mail angestimmt, aber anschließend ist noch genügend Zeit, um sich genauer damit auseinanderzusetzen: Die Klänge, die teils durch das Hineinblasen in Gewinderohre oder die Manipulation von Alltagsplastikgegenständen entstehen, wie Roigk beim anschließenden Gespräch erzählt, formen ein Klanguniversum, das sich zwischen Rauschen, Knistern und metallischen Tönen bewegt. Besonders beeindruckend ist die Art, wie Roigk diese Klänge im Raum platziert: Durch die sechs Kanäle seiner Soundinstallation wird der Raum zu einem Klangkörper, der sein Publikum umhüllt.

Der Klang dieser alltäglichen Objekte fügt sich zu einem vielstimmigen »Chor« zusammen, der auf subtile Weise die Geräuschkulisse unseres täglichen Lebens reflektiert. Das Murmeln und Rauschen, das er erzeugt, erinnert an die Geräusche einer Menschenmenge, an das Flüstern in der Nähe eines Mikrofons oder das Atmen, das zu etwas beinahe Bedrohlichem anwächst. Diese klangliche Dichte baut sich langsam auf, entfaltet sich und verstummt dann wieder, nur um mit neuen, schärferen Tönen von vorne zu beginnen. An manchen Stellen erinnern die Klänge an Schreie oder laute Ausrufe, die wie ein Aufschrei in einem Chor klingen.

Harriet Groß hingegen erschafft mit ihren Metallskulpturen visuelle Partituren, die komplementär zu Roigks Klangkunst wirken. Ihre Arbeiten bestehen aus großformatigen, oft scharfkantigen Metallgittern, die in ihren Strukturen wie fragmentierte Ordnungssysteme anmuten. Diese Gitter stehen symbolisch für die gesellschaftliche Instabilität und Polarisierung, die das zentrale Thema der Ausstellung »Beben« sind. Die metallischen Formen sind statisch, und doch erzeugen sie eine Dynamik, die an ein aufgelöstes Raster erinnert – ähnlich wie das brüchige Zusammenleben in polarisierten Zeiten. Diese Formen und Strukturen sind nicht nur Kunstobjekte, sondern scheinen fast bedrohlich, wie Barrieren oder Rüstungen. In Verbindung mit Roigks klanglichem »Chor« lassen sie den Gedanken aufkommen, dass Chöre, ähnlich wie Demonstrationen, eine gemeinsame Stimme formen können, die sowohl ein Gefühl von Gemeinschaft evoziert als auch spaltet. In heutigen Demonstrationen erleben wir oft, wie Stimmenmassen bedrohlich wirken können, insbesondere wenn sie die gesellschaftliche Polarisierung sichtbar machen.

Teil der Performance sind die im Raum platzierten Masken von Brannys und Kollath, welche diesen Gedanken weitertragen. Handgefertigt aus Ton, erinnern sie an menschliche Köpfe, deren Gesichter jedoch leer bleiben. An der Stelle des Mundes befindet sich eine Öffnung, aus der imaginäre Schallwellen treten könnten – als würden die Masken in einen stummen, aber vielsagenden Chor einstimmen. Die acht Masken symbolisierten die achtstimmige Chorstruktur, wie man sie aus romantischen Kompositionen kenne, erfahren wir während des Vortrages. Mit Roigks Klanginstallation verbinden sie sich als deren visuelles Sprachrohr. Auch wir, das Publikum, können nun unseren Beitrag leisten: Kollath nimmt die Rolle einer Dirigentin ein und lässt uns mehrfach den Vokal »O« anstimmen. Wir werden zu einer Einheit, nur darauf konzentriert, den Ton zu treffen, bloß nicht aus der Reihe zu tanzen. Wir werden gesteuert, verschmelzen zu einem Individuum – werden zu den Masken.

Die Ausstellung »Beben« ist damit weit mehr als eine Ansammlung künstlerischer Werke. Sie ist eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den Rissen in unserer gesellschaftlichen Ordnung, der Ambivalenz von Gemeinschaft und Spaltung, und der subtilen, aber kraftvollen Verbindung von Kunst, Klang und alltäglichen Materialien. Die Besucher*innen sind eingeladen, in diesen offenen Dialog einzutauchen und sich durch die Klang- und Bildwelten von Roigk und Groß herausfordern zu lassen – eine Auseinandersetzung, die uns die komplexe Mehrstimmigkeit unserer Zeit auf neue Weise hören und sehen lässt.

 

Die Ausstellung »Beben« läuft noch bis zum 28. September 2024.

Über die Autorin

Celeste Dittberner ist als freie Autorin im Bereich Musikjournalismus tätig und bewegt sich auch darüber hinaus vielseitig in der facettenreichen Kultur- und Musikszene Berlins. Musikalisch und kulturell breit interessiert, besucht sie regelmäßig Konzerte sowie Theater- und Opernaufführungen und liebt es, neue Musik und Künstler*innen zu entdecken.

Die Autorin des Textes Celeste Dittberner
Celeste Dittberner
© ZvG

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