Als im Jahr 2020 in aller Welt die Passagierflugzeuge stillstanden, bekam Ruth Wiesenfeld Post aus Kanada, den Vereinigten Staaten, der Schweiz, anderen Teilen Deutschlands, aus England, Norwegen und Iran. Die Berliner Komponistin hatte Kolleginnen aus dem Kreis der Iranian Female Composers Association (IFCA) eingeladen, ihre der Komposition vorausgehenden, auf Papier festgehaltenen Stadien künstlerischer Prozesse für eine Ausstellung nach Berlin zu senden.
Von Anfang an verfolgte Wiesenfeld mit der Reihe Towards Sound die Idee eines Archivs, das sich beständig wandelt, entwickelt und die flüchtigen Zeugnisse kreativen Schaffens an wechselnden Orten sichtbar macht. »Ich hänge alle Skizzen an eine Wand ganz dicht nebeneinander,« erzählt Wiesenfeld zum Format von »Rooted in Iran« im HilbertRaum. »So entsteht ein riesiges Feld von Gedanken, Plänen und kreativen Energien von vielen verschiedenen Menschen. Ich möchte weg von einem Ausstellungsprinzip, das nur auf die Ästhetik setzt.« Wiesenfeld begegnet den vierzehn Komponistinnen iranischer Herkunft vornehmlich als Kollegin. »Manche wollen vielleicht gar nicht als iranische Komponistin definiert werden und jede geht ihren eigenen künstlerischen Weg.«
Die meisten in der IFCA versammelten Komponistinnen leben in Nordamerika und nutzen die Vereinigung für mehr Sichtbarkeit, Zusammenhalt und Vernetzung mit ihren Kolleginnen in Iran. Andere Komponistinnen in Iran können sich nicht derart exponieren, da es gilt, keinen unnötigen Argwohn der Behörden auf ihre Lehre und Aufführungspraxis zu lenken. Inzwischen ist es weit verbreitet, dass Ensembles oder Musiker*innen aus dem Ausland Werke bei Komponist*innen in Iran in Auftrag geben oder aber dass umgekehrt diese eigens für Musikschaffende im Ausland Stücke schreiben. Denn für manche Spielarten zeitgenössischer Musik finden sich in Iran keine Gelegenheiten zur Aufführung oder Instrumentalist*innen mit den gewünschten technischen Fertigkeiten. An nahezu jeder Musikhochschule in Deutschland finden sich deutschiranische Studierende oder Iraner*innen, die kürzlich zum Studium nach Deutschland gekommen sind.
In Berlin leben viele verschiedene Akteur*innen der iranischen Diaspora mit je eigenen Schwerpunkten – ob nun Kammerkonzerte mit klassischer persischer Musik, Clubnächte mit elektro- nischer Musik oder Konzertreihen mit Uraufführungen –, die Spielweisen, Repertoires und Improvisation über Genregrenzen hinweg neu erkunden. Manche nehmen die Exotisierung von außen in der Pflege musikalischer Traditionen stillschweigend in Kauf, andere schlagen bewusst Kapital aus der Mystifizierung Teherans als ferne Metropole, in der Musikschaffen mit so vielen Verboten belegt sei, dass quasi nur im sogenannten Untergrund aufregende Musik entstehe. Wer nachhaltig mehr Bewusstsein für Musikschaffende aus Iran oder der iranischen Diaspora wecken möchte, beginnt am besten mit Kontakten auf persönlicher Ebene, unabhängig von Organisationen oder Interessengruppen. So hält es auch die Berliner Komponistin Cymin Samawatie: »Ich begegne vielen Künstler*innen und versuche, da wo ich kann, sie zu supporten. Ich möchte sinnvoll vernetzen und denke, wenn jede*r in seinem oder ihrem Bereich so etwas macht, kann das auch etwas bewirken für das große Ganze.«
Wie das funktioniert, lässt sich am 15.Dezember im Museum für Islamische Kunst erleben, wenn Samawatie gemeinsam mit der Tombak-Spielerin Roshanak Rafani und dem Übersetzer Kurt Scharf einen Abend zu Lyrik der Dichterin Forough Farrokhzad gestaltet.
Und schließlich am 8. Januar 2022 im HilbertRaum: die in Kanada lebende Sängerin und Komponistin Farnaz Ohadi wird dann in der Ausstellung »Rooted in Iran« auftreten, denn die Anreise aus Sevilla ist realisierbar. Dort studiert Ohadi ein Jahr lang Flamenco.